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Unter den übrigen Dichtungsarten giebt es vorzüglich drei,
welche leicht mit der Epopee verwechselt werden können: die
Tragödie, die mit derselben im Begriff der Handlung,
die Idylle, die damit im Begriff der Erzählung, und
die ganze übrige Classe erzählender, aber nicht epischer
Gedichte, die in beiden mit ihr zusammenkommen.
Die Tragödie hat man, wenigstens eine lange Zeit hindurch,
für so nahe mit ihr verwandt gehalten, daß man sie zum Theil
sogar eine nur unmittelbar in Handlung gesetzte Epopee genannt hat; und
so lange man gewohnt war, alle ästhetischen Grundsätze allein
aus den Mustern
der Alten zu entwickeln, konnte es dieser Meynung nicht an Anhängern
fehlen. Denn bei den Griechen entstand die Tragödie nicht allein in
der That aus dem Epos, sondern sie blieb auch in ihrer höchsten
Vollkommenheit noch immer in hohem Grade episch, so wie die dichterische
Stimmung der Alten sich überhaupt auf eine sehr überwiegende Weise
zu dieser Seite hinneigt. Untersucht man aber das Wesen der Tragödie
zugleich tiefer und allgemeiner, und sieht man vorzüglich auf die
Forderungen, welche dieselbe an die Natur und die Stimmung des Dichters macht;
so überzeugt man sich leicht, daß
[221] nirgends sonst zwei sich
übrigens ähnliche Dichtungsarten so weit auseinandergehen, und sich
so geradezu entgegengesetzt sind, daß das Wesen der einen nie sichtbarer,
als durch eine Vergleichung mit der andern ins Auge fällt. Diese Hoffnung,
ein noch helleres Licht über die Natur der Epopee zu verbreiten, ist es,
die uns einladet, hier noch bei der Tragödie einen Augenblick zu verweilen.
Über den Begriff der Tragödie ist man ungleich früher, als über den der Epopee, einig gewesen. Daß die tragische Handlung auf eine einzige Katastrophe hingeht, daß diese Katastrophe den Menschen im Kampf mit dem Schicksale zeigt, und in dem Zuschauer Furcht und Mitleid zu erregen bestimmt ist, sind fast allgemein angenommene Merkmahle desselben. Offenbar war indeß der Begriff der Tragödie auch leichter zu entdecken, als der des epischen Gedichts, da jener sich nur auf die Stimmung des Gemüths zu einer einzelnen Empfindung, dieser auf einen ganzen allgemeinen Zustand desselben gründet.
Denn darin liegt gerade der große und mächtige Unterschied, daß die Tragödie auf Einen Punkt versammelt, was der epische Dichter auf eine unendliche Fläche ausdehnt. Beide kommen im Begriff der Handlung, und folglich der Objectivität, beide in den allgemeinen Forderungen der Kunst mit einander überein; um also in ihren Resultaten so weit auseinanderzugehen, müssen sie in der ursprünglichen Gemüthsstimmung verschieden seyn, welche die Einbildungskraft nur dichterisch bearbeitet, und gerade da ist es [222] auch in der That, wo ihre contrastirende Individualität allein anzutreffen ist.
Dem epischen Gedicht haben wir den Zustand der sinnlichen Betrachtung,
also einen objectiven, ruhigen und mehr intellectuellen, zugeeignet. Indeß
ist es natürlich, daß darum in diesem Zustand die Empfindung nicht
schweigt; daß sie vielmehr in ihrer größesten Energie zugleich mit
rege wird. Und wie sollte sie es nicht? da so große und uns so nahe
liegende Gegenstände, als das Schicksal und die Menschheit, alsdann vor
uns da stehn, und zugleich unser Blick so erhellt und <gestärkt ist>,
daß er sie in ihrer reinsten und eigenthümlichsten Gestalt
durchschaut. Wir haben dies im Vorigen nicht besonders herausgehoben,
weil es sich in der That von selbst versteht; diesen Antheil der Empfindung
an der Wirkung des epischen Gedichts nicht besonders mit in Anschlag gebracht,
weil er in einer schon ursprünglich sinnlichen, und noch dazu allein durch
die Hand der Kunst zubereiteten Stimmung unmöglich fehlen kann. Aber jetzt
da der Tragödie die Empfindung gewisser Maßen, als ein ihr
ausschließlich angehörendes Gebiet angewiesen werden soll, ist es
nothwendig dies genauer auseinanderzusetzen. Allerdings wird also durch den
epischen Dichter die Empfindung erregt, er hörte auf Dichter zu seyn,
wenn er nicht sogar seine Hauptwirkung darauf hinrichten wollte; allein was
durch ihn in Bewegung kommt, ist der ganze empfindende Mensch, nicht eine
einzelne Empfindung; es ist ferner keine, die wir auf unsern gegenwärtigen augenblicklichen
Zu[223]stand, vielmehr eine, die wir, da sie durch einen, in eine gewisse
Ferne gestellten Gegenstand erregt wird, allgemeiner auf unsre ganze Lage,
unser ganzes Daseyn beziehen; es ist endlich noch weniger eine, die
unmittelbar durch die Gegenwart des Objects geweckt wird, es ist immer
eine dritte Person, der Erzähler, noch zwischen diesem und uns,
und so geht auch alles in uns erst durch unser intellectuelles
Vermögen hindurch, ehe es unser Gefühl
zu berühren im Stande ist.
Dieser Unterschied ist überaus fühlbar, wenn wir die Erwartung vergleichen, welche die Lösung des furchtbaren Räthsels, woran Ödipus Schicksal hängt, und welche der Kampf Hektors und Achills in uns erregt. Wie ungleich ängstlicher und qualvoller ist jene, wie vielmehr bloß rührend und wehmüthig diese! In beiden Fällen ist unsre Furcht, unser Mitleid gleich stark. Aber der Ton dieser Empfindungen ist anders, da in jenem der Ausgang noch nicht entschieden ist, noch er selbst, in diesem nur seine Erzählung erwartet wird, er selbst aber längst da gewesen ist. Hat der Dichter in diesen beiden Fällen diese Verschiedenheit wohl zu benutzen verstanden, so befinden wir uns in <dem> ersteren in der vollkommensten Ungewißheit, selbst dann, wann der Erfolg uns schon vorher bekannt war, und empfinden in dem letzteren, auch noch völlig unbekannt mit der Begebenheit, nur die sanfte Schwermuth, in die uns eine traurige Vergangenheit versenkt, wenn die Erinnerung sie wieder zurückruft.
[224] Diese verschiedene Einwirkung erklärt sich natürlich aus
der verschiedenen Form beider Dichtungsarten, daß die eine uns zum
Zuschauer ihres Gegenstandes macht, die andre ihn uns nur, wie aus einer
beträchtlichen Ferne, durch Überlieferung zuführt. Aber
daß gerade diese Formen ihnen beiden nothwendig und wesentlich sind,
dies ist es, was ihren Charakter bestimmt. Denn in der That lassen sich alle
Eigenschaften der Tragödie am leichtesten aus dem Begriff der
lebendigen Gegenwart, in die sie ihren Stoff versetzt, ableiten,
so wie sich aus dem der Erzählung alle diejenigen entwickeln
lassen, welche das epische Gedicht von ihr unterscheiden. Da aber nicht
gleich gut auch seine übrigen Eigenthümlichkeiten daraus
herfließen, so war es besser, eine andre Methode des Raisonnements,
als diese, zu erwählen.
Der Zustand einer bestimmten Empfindung ist also derjenige, auf welchen der tragische Dichter hinarbeitet, und die Tragödie ist in so fern nur eine besondre, aber zugleich die höchste Gattung der lyrischen Poësie (*): eine besondre, weil sie eine gewisse ein[226]zelne Empfindung zu erregen strebt; die höchste, weil sie diese Wirkung durch einen äußeren Gegenstand, durch die Darstellung einer Handlung, erreicht.
Da die Empfindung überhaupt in jeder dichterischen Stimmung so
stark und so allgemein als möglich wirksam seyn muß; so
hält man den Unterschied der beiden Gemüthszustände,
welche den epischen und tragischen Dichter bilden, am besten daran
fest, daß in jenem mehr das Object, in diesem zugleich stärker
das Subject herrscht. In jenem suchen wir Gegenstände, und
verknüpfen sie zu einem Ganzen; obgleich dies Ganze nothwendig
Eindrücke in uns zurückläßt, so heften wir uns
weniger an ihnen, als an ihrer Ursache, fest. In diesem beziehen wir,
was wir sehen, unmittelbar auf unsre Empfindung, eine
Nei[227]gung,
eine Leidenschaft wird rege, und sie bestimmt nun allein den Antheil,
den wir an der Begebenheit nehmen, die sich vor unsern Augen abrollt.
Daher geht in der Tragödie alles auf einen einzigen entscheidenden
Punkt, gleichsam auf eine Spitze, hin: der Gang ist nicht bloß
ununterbrochen, sondern rasch, die Entscheidung ist plötzlich und
abgebrochen, da hingegen in der Epopee alles gleichsam in sich
zurückkehrt, immer einen geschlossenen Kreis durchläuft.
In der Tragödie herrscht immer Eine Art des Charakters, der Gesinnung, der Handlungsweise; wenn mehrere auftreten, so erscheinen sie im Kampf, jede will ihr Recht in dem Gemüthe des Zuschauers allein behaupten, und alle lassen es am Ende auf Sieg oder Niederlage ankommen. In der Epopee erhebt ihr mannigfaltiges Entgegenwirken den Zuhörer über sie alle, statt ihn zum Theilnehmer an einer einzelnen Partei zu machen, und ihn selbst in den Kampf mit herabzuziehen. In der Epopee werden ferner nach einander alle Arten der Empfindung erregt: das Lächerliche und das Tragische, das Sanfte und das Erhabene, das Furchtbare und das Liebliche, alles steht harmonisch neben einander, und wir umfassen und bewahren alles zugleich, d.h. unser Gemüth befindet sich in einer Lage, in welcher es keinem dieser Eindrücke ganz angehört, sondern eigentlich nur für alle Sinn hat, allen offen steht. Die Tragödie hat, wenn sie vollkommen ist, denselben Umfang der Töne, aber jeder füllt unsre Seele in dem Augenblick, wo er erschallt, ganz und ungetheilt; sie wirken nicht neben, sie wirken nach [228] einander, das Resultat ist kein Ganzes, worin alle diese Elemente zugleich vorhanden sind, es ist etwas Neues, bewirkt durch eine Reihe durch sie successiv hervorgebrachter Modificationen.
Die Epopee beschäftigt zwar zugleich unsre Sinne und unsre Empfindung; aber da sie uns überhaupt nur zur Beschauung und Betrachtung einladet, so läßt sie uns in verweilender und ruhiger Muße. Die Tragödie reißt uns in ihren Gegenstand mit fort, zwingt uns zur Theilnahme an ihrer Handlung selbst. Die erstere nährt und bereichert daher unser Vermögen, unser Wesen im Ganzen; die letztere stählt vorzüglich die Fähigkeit, dies Vermögen auf einen einzelnen Punkt zu richten, unsre Kraft zum Entschluß und zur That. Die Epopee führt uns in die Welt hinaus, in eine freie heitre und sonnichte Natur; die Tragödie drängt uns in uns selbst zurück, und mit demselben Schwert, mit dem sie ihren Knoten zerhaut, trennt sie auch uns auf einen Augenblick von der Wirklichkeit und dem Leben, das sie uns überhaupt weniger zu lieben, als mit Muth zu entbehren lehrt.
[Fußnote, S. 225]
(*) Es wird befremdend scheinen, die Tragödie hier so dicht
an die lyrische Poësie angeschlossen zu sehen. Allein man erinnere sich,
daß ich von ihr hier nur im Gegensatz gegen die epische rede, und
daß der Weg meiner Untersuchung mich gerade auf den Punkt führt,
in welchem der Unterschied zwischen beiden am schärfsten ins Auge
fällt. Ich habe nemlich die Dichtungsarten nicht sowohl nach ihrer
äußern Form, als nach der Stimmung unterschieden, die sie in
dem Dichter voraussetzen und in dem Leser hervorbringen. Nun ist der
einfachste Unterschied zwischen der Epopee und Tragödie unstreitig:
die vergangene und die gegenwärtige Zeit. Jene erlaubt
Klarheit, Freiheit, Gleichgültigkeit; diese bringt Erwartung, Ungeduld,
pathologisches Interesse hervor. Daher drängt die letztere das
Gemüth in sich selbst zurück, da die Epopee den Menschen
vielmehr in die Klarheit der Gestalten herausführt. Dadurch nun
eignet sich die Tragödie offenbar der lyrischen Gattung an.
Übrigens aber ist sie, als die Darstellung einer Handlung,
eben so sehr als das Epos und vollkommen plastisch. Die Hauptgesetze
derselben werden sogar nur aus ihrer plastischen Natur hergeleitet
werden können; aber da sie alle [226] durch den lyrischen Zweck,
die Erregung der Empfindung, modificirt seyn müssen, so werden die
Gesetze der epischen Poësie gar keine Anwendung auf sie finden; da sie
hingegen mit den Gesetzen der lyrischen Dichtung in durchgängiger
Übereinstimmung stehen müssen. So lange man daher bloß
epische und lyrische Poësie unterscheidet, muß die Tragödie
wirklich mehr der letzteren, als der ersteren beigezählt werden.
Unstreitig aber wäre es besser, alle Poësie in plastische
und lyrische, und die erstere wieder in epische und
dramatische (unter der ich hier bloß die tragische verstehe,
da die Komödie eine ganz eigne Erörterung fordert) abzutheilen.
Alsdann würden alle Gesetze der plastischen Dichtung zwar zugleich
für die Tragödie gelten; aber man würde bestimmt fühlen,
wie mit dem Begriff der gegenwärtigen Handlung unmittelbar auch
der Begriff der Empfindung und nothwendige Rücksicht auf die allgemein
lyrischen Gesetze gegeben ist.
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Erstdruck und Druckvorlage
Wilhelm von Humboldt: Ästhetische Versuche.
Erster Theil.
Über Göthe's Herrmann und Dorothea.
Braunschweig: Vieweg 1799, S. 220-228.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10574079
PURL: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN534730825
URL: https://books.google.fr/books?id=nznawwEACAAJ
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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer