Rudolf Lehmann

 

 

Das Wesen der Lyrik

 

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Texte zur George-Rezeption

 

Was sich in unseren bisherigen Betrachtungen über das Wesen der Dichtkunst und ihr Verhältnis zur Sprache ergeben hat, das zeigt sich am deutlichsten, weil in den einfachsten und reinsten Linien, in der Lyrik. Poesie ist die Kunst, innere Erlebnisse in Worten wiederzugeben, in Worten, die der unmittelbare Ausdruck eines solchen Erlebnisses sind und den Hörer zwingen, dasselbe in sich zu erneuern. Während es nun in der epischen und dramatischen Poesie Gestalten und Vorgänge der Außenwelt sind, die in der Dichterphantasie ein neues Leben empfangen, bleibt die Lyrik ganz und gar im subjektiven Gefühlsleben des Dichters beschlossen, und nur dieses ist es, was in seinen Versen zum Ausdruck kommt. Während Epiker und Dramatiker stets auf Beobachtung und anschauliche Wiedergabe der Außenwelt angewiesen ist, braucht der Lyriker nur in sein eigenes Inneres hineinzulauschen und auszusprechen, was ihm da kund wird: die unmittelbare Umsetzung des Gefühlserlebnisses in Worte ist sein einziges oder doch wesentliches Geschäft, und die Gestaltungskraft des Dichters äußert sich nur in der schöpferischen Herrschaft über die Sprache; "Den lyrischen Dichtern", sagt Dilthey treffend, 1) "ist gegeben, den stillen Ablauf innerer Zustände, der sonst von dem Getriebe der äußeren Zwecke gestört und von dem Lärm des Tages übertönt wird, in sich zu vernehmen, festzuhalten, zum Bewußtsein zu erheben." Auch die Wirkung lyrischer Gedichte ist in einem weit entschiedeneren Sinne subjektiv, als sie jene anderen Dichtungsgattungen hervorbringen können: denn der Leser erlebt die dargestellten Gefühle nicht als die des Dichters, sondern als seine eigenen. Er denkt bei einem Liebesgedicht an seine Liebe, bei einer Klage über die Ver[120]gangenheit des Glücks an Verluste, die er selbst erlebt und erlitten hat – wenn er nicht etwa das Gedicht als philologisch geschulter Literaturhistoriker betrachtet.

Nun ist freilich auch das Gefühlserlebnis des Dichters stets durch einen äußeren Vorgang angeregt, sei es, daß ein solcher tief in sein Schicksal eingegriffen hat, sei es, daß er nur ein flüchtiges Gekräusel im Flusse des Alltagslebens darstellt, sei es ein Spaziergang oder ein Bruch mit der Geliebten. Aber eben dies ist das Charakteristische für die lyrische Gestaltung, daß das äußere Erlebnis nur in seiner Wirkung auf das Innenleben erscheint. Die Einzelheiten werden ausgemerzt, die bestimmten Umrisse aufgelöst. Wo das Gefühl sich in dieser Weise von dem bestimmten Vorstellungsinhalt, durch den es erregt ist, losgelöst hat und den einzelnen Eindruck überdauert oder überwiegt, da sprechen wir von Stimmung. Stimmung zu erwecken ist also das eigentliche Wesen der lyrischen Kunst. Was in den anderen Dichtungsgattungen nur eine Ingredienz der Wirkung, das ist hier letzter Zweck. Während die epische und dramatische Kunst in der plastisch scharfen Gestaltung von Charakteren und Handlungen besteht, verlangt das Wesen der Lyrik gerade umgekehrt die Auflösung und Verwischung der äußeren Umrisse. Und eben hierdurch vollzieht sich zugleich jene Verallgemeinerung des Individuellen, die im Wesen jeder künstlerischen Darstellung liegt. Nur so viel äußeres und individuelles Erleben wird der echte Dichter unmittelbar aussprechen und darstellen, wie nötig ist, damit wir den Gefühlsvorgang verstehen und nacherleben können. Aus dem individuellen Erlebnis wird auf diese Weise der typische Inhalt eines allgemein menschlichen Empfindens: hierauf beruht das Wesen aller lyrischen Dichtung.

Die literaturhistorische Forschung kennt bis ins einzelne die individuell bestimmten Anlässe, die Gedichten, wie "Willkommen und Abschied", "Wandrers Nachtlied", oder der Marienbader Elegie zugrunde liegen: was ist davon in das Gedicht selbst übergegangen? Nichts als die unbestimmten und allgemeinen Umrisse von Situationen, die jeder so oder ähnlich erlebt hat oder erleben kann, die aber genügen, tiefe und leidenschaftliche Gefühle hervorzurufen und verständlich zu machen: Glück des Wiedersehens und Schmerz der Trennung, Sehnsucht nach Frieden und Seligkeit der Erinnerung.

Das Gesagte gilt gleichmäßig von den verschiedenen Anlässen und Eindrücken, welche Gefühlserlebnisse hervorrufen und damit zum Gegenstand lyrischer Gedichte werden können: Liebe und Natur, Religion und Vaterlandsliebe, überall ist es nur das Allgemeine und Gefühlsmäßige, das den Inhalt der Dichtung bildet. Ob das Gefühlserlebnis des Dichters durch die Sehnsucht nach der Geliebten oder den Anblick einer geliebten Landschaft, durch die Vergänglichkeit des Lenzes oder den Tod eines Freundes hervorgerufen wird, ob es in dem Verlangen nach Liebe oder in dem nach [121] Freiheit wurzelt, macht für das künstlerische Wesen des Gedichtes keinen Unterschied. 1)

Die Außenwelt wird in aller wahren Lyrik nur in schwachen Umrissen, in einigen für das Gefühl wesentlichen Zügen erscheinen. Am deutlichsten zeigt sich das in der Wiedergabe von Natureindrücken und Landschaftsbildern. Ihre Darstellung wird, um einen Ausdruck der modernen Malerei anzuwenden, immer etwas Impressionistisches haben und eingehendere Schilderungen ausschließen. Daher war die beschreibende Dichtung alten Stils gerichtet, sobald mit Klopstocks Oden die ersten wahrhaft lyrischen Gedichte ihren Siegeszug durch die deutsche Jugend hielten, fast zwei Jahrzehnte, bevor Lessing im Laokoon der Poesie das Malen verbot. Es sind hier freilich verschiedene Abstufungen möglich, je nachdem das Gefühl des Dichters sich der Einzelheiten des Naturbildes bemächtigt, die ihm das Auge bietet oder nur am Gesamteindruck haften bleibt. In der klassischen wie in der romantischen Dichtung treten Landschaftsbilder und Naturvorgänge bisweilen in bestimmten Umrissen auf: so die Schilderungen des Gewitters in der Frühlingsfeier, der Ruinen in Goethes Wanderer, des Stillen Grundes bei Eichendorff; weit öfter aber finden wir bloße Andeutungen. Klopstocks Ode an den Züricher See skizziert die Landschaft mit ein paar lebendigen Strichen; Goethes Harzreise und Lied an den Mond lassen sie eben nur erraten. Und die moderne Lyrik neigt – wie wir später sehen werden – noch weit entschiedener zur Auflösung aller bestimmten Züge. –

Gefühle in Worten wiederzugeben und beim Hören oder Lesen lebendig zu machen, ist die besondere Aufgabe des Lyrikers. Wie versucht und vermag er es, sie zu erfüllen? Werfen wir zunächst einen Blick auf das Bild, das uns die Literaturgeschichte darbietet, so zeigt sie uns einen dreifach verschiedenen Charakter der lyrischen Sprache. In den älteren Epochen literarischer Überlieferung tritt uns überall eine starke Neigung zu formelhaft konventionellem Ausdruck entgegen. Bestimmte Vergleichungen und Umschreibungen kehren immer wieder und bilden den Grundstock, aus dem der Dichter schöpft und dem er dann je nach Vermögen neue Wendungen abgewinnt oder hinzugesellt. Dieses Bild zeigt uns der größte Teil der höfischen Lyrik des Mittelalters, vielfach aber auch das lyrische Volkslied der späteren Jahrhunderte. Wie die Persönlichkeit der Dichter, so scheint auch ihre Ausdrucksweise eingeschränkt und konventionell gebunden. Wir müssen annehmen, daß dieser Charakter bereits eine gewisse Erstarrung bedeutet und eine Zeit frischerer und ungebundenerer [122] poetischer Sprachschöpfung voranging, von der nur eine schriftliche Überlieferung nichts weiß. Die Poesie der Renaissance, die in den Kulturländern Europas die volkstümliche Dichtung ersetzte und verdrängte, zeigt, wie begreiflich, den Zug zum konventionellen und überlieferten Ausdruck noch weit entschiedener. Aus den antiken Sprachen sind ihre Redefiguren und Metaphern zu einem großen Teil übernommen, zum mindesten sind sie diesen nachgebildet. Die antiken Götter personifizieren in herkömmlicher Weise Gefühle und Eigenschaften; und der Gefahr, zur Schablone zu erstarren, durch die wahres Gefühl nicht ausgedrückt, sondern erstickt wird, ist auf Dauer keine dieser Dichtungen entgangen.

Das Mittel nun, die Erstarrung im Konventionellen zu überwinden, zu einer neuen und echteren Weise des Gefühlsausdrucks zu gelangen, war nicht selten eine pathetische Sprache. So war Klopstocks Stil durchweg pathetisch und deklamatorisch: durch die hinreissende Gewalt leidenschaftlich bewegter Worte schwemmte er gleichsam die eingetrocknete Überlieferung hinweg und gelangte zu einem individuellen Ausdruck für die Gedanken und Gefühle, die sein Inneres bewegten. Allerdings war dieser Ausdruck ebenso wie das Gefühlsleben, das ihm entsprach, nicht frei von einer künstlichen und gewaltsamen Steigerung über sich selbst und das natürliche Maß hinaus. Dies ist es, was uns heute den größten Teil von Klopstocks Dichtungen ungenießbar macht, gerade dies aber ist es, wie es scheint, was auf seine Zeitgenossen, die aus den Niederungen deutschen Philisterlebens und seiner Sprache emporstrebten, so mächtig gewirkt hat. Eine ganz ähnliche Erscheinung bietet in der französischen Literatur die Lyrik Victor Hugos: gewaltiges und gewaltsames Pathos, echte Leidenschaft noch künstlich erhitzt und im Ausdruck gesteigert; das wenigste von dauernder Wirkung, aber das Ganze ein machtvoller und fruchtbarer Triumph über die eingehende und öde Bindung an konventionelle Formen, welche den dichterischen Ausdruck beherrscht und gefesselt hatten.

Allein es ist klar, daß mit diesem Pathos nicht die höchste Stufe dichterischer Ausdrucksfähigkeit erreicht ist. Diese tritt uns vielmehr erst da entgegen, wo die Sprache nichts als der natürliche Ausdruck gesteigerten Empfindens ist und sein will, wo das schlichteste Wort unmittelbar die Persönlichkeit des Dichters und sein inneres Erleben widerspiegelt: das scheinbar Leichteste ist in Wahrheit das Schwierigste, das scheinbar Selbstverständliche bezeichnet auch hier, ähnlich wie wir es bei der metrischen Behandlung gesehen haben, die lezte erreichbare Höhe der Kunst. Diese Dichtung erneuert die Zeiten des Ursprungs und der Frische, die der Entstehung den Konvention voranging, aber sie hat ihre Ausdrucksfähigkeit unendlich gesteigert und verfeinert. Gedichte wie Walters "Herzeliebez frouwelîn" oder "Unter der linden auf der heiden" stehen auf dieser Höhe. In der modernen deutschen Dichtung hat be[123]kanntlich Goethe den Weg zu ihr gebrochen und sie als erster erreicht. Eichendorff, Heine, auch Mörike haben ihm zu folgen vermocht. In Jägers Abendlied, in den beiden Nachtliedern des Wanderers, in dem Gedicht An den Mond ist das künstlerisch Zwingende des Wortes aufs höchste gesteigert. Jeder Hörer und Leser steht unter dem Eindruck: so habe ich's auch empfunden und erlebt, doch nicht ausdrücken können, unter dem Eindruck: nicht anders, nicht besser kann ausgesprochen werden, was durch das Labyrinth der Menschenbrust wandelt. –

Versuchen wir nunmehr näher in das Geheimnis dieser Sprachkunst und ihrer Wirkung einzudringen, so müssen wir uns dessen erinnern, was uns das sechste Kapitel über das Wesen der Dichtersprache gelehrt hat. Jedes innere Erlebnis besteht aus einem lebendigen und einheitlichen Zusammenhang von Gedanken und Empfindungen. Indem der Dichter nun einen solchen darstellt, ist ihm das Wort entweder ganz unmittelbar Ausdruck seiner Gefühle, oder es tritt ihm zwischen Stimmung und Klanggebilde die bildliche Anschauung als vermittelndes Glied. In diesem Sinne konnten wir sagen, daß alle poetischen Schöpfungen sich auf einer Skala zwischen der rein akustischen und der anschaulich bildenden Wirkung bewegen und zumeist von beiden etwas an sich tragen. Sinn, Klang und Bild erscheinen somit als die drei Elemente eines jeden Gedichtes, und mit Recht unterscheidet Geiger in seinem schon öfter angeführten Buche drei Wirkungsmöglichkeiten, die er als gnomische, anschauliche und musikalische bezeichnet. 1) Der Dichter strebt entweder nach einer unmittelbaren und einfachen Wiedergabe dessen, was in ihm vorgeht: das Wort ist der schlichte Ausdruck des Gefühls. Oder es vermittelt vielmehr eine Anschauung, die den Sinn bildlich ausdrückt. Oder endlich, – womit Geiger die Reihe beginnt, – er sucht die rein klangliche Wirkung seiner Worte in ein unmittelbares Verhältnis zum Empfindungsinhalt zu bringen und auf diese Weise eine Art von musikalischer Wirkung zu erreichen.

Die schlichte Aussprache eines inneren Vorgangs gehört eigentlich der Prosa an. Wo es aber ein tiefes inniges Gefühl ist, das durch sie zum Ausdruck kommt, vermag sie gleichwohl mit dichterischer Kraft zu wirken. Das Gefühl, daß Wort und Sinn einander in innerster Verwandtschaft decken, die Wahrheit des Ausdrucks also, ist es, was hier zwingt und künstlerische Wirkung hervorruft. Mit Recht führt Geiger Mignons Lied "Nur wer die Sehnsucht kennt" an, und manche andere Goethesche Verse können diesem zur Seite gestellt werden. Unter den großen deutschen Lyrikern ist es besonders Heine, der sich auf diese Kunst des schlichten Ausdrucks versteht. Ein Beispiel mögen die schönen Verse aus der "Heimkehr" geben:

[124] Herz, mein Herz, sei nicht beklommen,
Und ertrage dein Geschick,
Neuer Frühling gibt zurück,
Was der Winter dir genommen.

Und wie viel ist dir geblieben,
Und wie schön ist noch die Welt!
Und mein Herz, was dir gefällt,
Alles, alles darfst du lieben!

Freilich ist es nicht zu leugnen, daß eine so einfache und scheinbar kunstlose Ausdrucksweise leicht Gefahr läuft, ins Prosaische zu verfallen, und auch dies zeigt uns Heine, bisweilen unfreiwillig, öfter freilich mit bewußter künstlerischer Absicht; das letztere z. B. in dem bekannten Gedicht: "Ein Jüngling liebt ein Mädchen, die hat einen anderen erwählt", – wo die ersten Strophen in alltäglichen Ausdrücken eine Alltagsgeschichte wiedergeben, um erst mit der Schlußwendung ins Poetische umzuschlagen.

Im allgemeinen wird daher die schlichte gedankenhafte Wiedergabe des inneren Erlebnisses verhältnismäßig selten sein, denn es liegt im Wesen der Poesie wie aller Kunst überhaupt, daß der Inhalt, den sie ausdrücken will, nicht durch sich selbst, sondern durch die Form wirken will. Hierzu kommt, daß lyrische Gedichte, wenigstens soweit sie der reinen Gefühlslyrik angehören und nicht reflektierenden Charakters sind, zumeist einen sehr einfachen, nichts weniger als reichen Gedankengehalt haben und daß auch die Gefühle, die sie ausdrücken, durch Kraft oder Innigkeit gefangen nehmen, nicht aber durch Mannigfaltigkeit oder Neuheit interessieren können. Die künstlerische Wirkung solcher Gedichte wird daher zumeist auf dem musikalischen oder bildlichen Charakter des Ausdrucks beruhen. Die Mittel, die dem Dichter hierfür zu Gebote stehen, sind im achten und neunten Abschnitt unserer Betrachtungen ihrem Wesen nach erörtert. Hier ist die Frage, wie weit sie in der lyrischen Dichtung zusammengehen können, wie weit sie einzeln oder gar im Gegensatz zueinander zur Geltung kommen. Es gibt eine Anzahl lyrischer Schöpfungen – und wir werden sie zu den höchsten ihrer Art rechnen müssen –, in denen beide Wirkungen sich vollkommen die Wage halten, und wo die Stimmung zu gleicher Zeit durch den Klang wie durch die Bilder, welche er erweckt, erregt und gesteigert wird. Goethes Lyrik gehört zum größten Teil hierher, aber angeführt werden soll nur ein kleines und weniger bekanntes unter seinen Gedichten, das gleichwohl ein besonders belehrendes Beispiel dieses Doppelcharakters gibt.

Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer
        Vom Meere strahlt;
Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer
        In Quellen malt.

Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Wege
        Der Staub sich hebt;
In tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege
        Der Wandrer bebt.

[125] Ich höre dich, wenn dort mit dumpfem Rauschen
        Die Welle steigt.
Im stillen Haine geh' ich oft zu lauschen,
        Wenn alles schweigt.

Ich bin bei dir; du seist auch noch so ferne,
        Du bist mir nah!
Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne.
        O, wärst du da!

Hier wird die Sehnsucht, welche die Grundstimmung des Gedichtes ist, in einer Reihe von Naturbildern wiedergegeben, deren jedes von anschaulichem Leben erfüllt ist; zugleich aber dienen Sprache und Metrum dazu, durch den Klang die Empfindung selbst sowohl wie das Bild zu charakterisieren. So wird der lang und langsam ansteigende und schnell fallende Rhythmus unmittelbar zum Ausdruck sehnsüchtiger Empfindung und veranschaulicht doch zugleich den aufwirbelnden Staub und die sprudelnde Quelle. Noch höher ist die Kunst in dem Elfenchor, mit dem der zweite Teil des Faust beginnt: "Wenn sich lau die Lüfte füllen um den grün umschränkten Plan." Hier werden in den vier aufeinander folgenden Zeiten der Nacht vom Abend bis zum Morgen vier Stimmungen: Müdigkeit, Glück des Ruhens, allmähliches Erwachen und neue Tatkraft in vier anschaulichen Bildern mit allen Mitteln des Rhythmus und der sprachlichen Klangwirkung musikalisch eindrucksvoll gemacht. Man glaubt, eine Wortsymphonie in Versen zu hören und gleichzeitig eine entsprechende Reihe herrlicher Bilder vor Augen zu sehen, zusammengehalten durch einen einfachen, aber tiefen und schönen Gedanken.

Es erscheint als das Natürliche, daß alle lyrischen Gedichte diese doppelte (oder dreifache) Wirkung erstreben. Gleichwohl ist das nicht durchweg der Fall; wir finden vielmehr, daß das musikalische Element nicht selten einseitig hervortritt, und es wird das begreiflich, wenn wir an den Einfluß und das Vorbild der Musik denken. Diese nämlich vermag am unmittelbarsten wie am stärksten von allen Künsten auf das Gefühl zu wirken; sie erregt ganz ohne gedankenmäßigen oder anschaulichen Inhalt Stimmungen des verschiedensten Charakters und von der größten Kraft und Tiefe. Daher ist es ein begreifliches Streben der Lyrik, es der Schwesterkunst gleichzutun, in Wortmusik überzugehen und zu diesem Zweck nicht nur auf bildliche Anschaulichkeit, sondern auch auf einen greifbaren gedanklichen Zusammenhang zu verzichten. Die Lyrik der Romantiker, besonders Tiecks und Brentanos, zeigt diese Neigung. Ihre Worte und Sätze haben oft nicht mehr den Zweck, einen bestimmten Inhalt von Vorstellungen zu vermitteln, sie sollen unmittelbare musikalische Empfindungen hervorrufen, die sich an keinen festen Gegenstand heften. Tiecks bekannte Verse "Liebe denkt in süßen Tönen" bezeichnet fast programmatisch diese Richtung. Noch einseitiger und entschiedener sind ihr die lyrischen Schulen [126] der modernen Franzosen, die Dekadenten und Symbolisten, sowie ihre deutschen Nachahmer darin gefolgt. Was wir bei der allgemeinen Betrachtung der Dichtersprache im neunten Kapitel als einen möglichen Fall berührten, daß der bestimmte Inhalt einer Empfindung und die Stärke des Gefühls, das sie begleitet, in einer Art von gegensätzlichem Verhältnis stehen, daß mithin die Stärke des Gefühls die Bestimmtheit der Anschauung beeinträchtigen kann und umkehrt, wird von ihnen als ein allgemeines Dogma verkündet. Daher suchen sie eine Wirkung, die ganz der Musik entspricht und ohne vermittelnde Vorstellung auf Gefühl und Stimmung gerichtet ist. Die letzten Umrisse bestimmter Erlebnisse und Vorgänge werden aufgelöst, und der Zusammenhang ist in den Strophen Mallarmés und oft auch Stefan Georges kein festerer, als ihn etwa der musikalische Gedanke eines Sonatensatzes gibt. Eben hierdurch aber fordert diese Lyrik eine Konkurrenz heraus, der sie von vornherein unterlegen ist. Die elementare Kraft der Gefühlswirkung, die der Musik eignet, erreicht das Wort als solches niemals. Und eben deshalb ist die Dichtung ihrem Wesen nach darauf angewiesen, durch das Wort sich an die anschauende Phantasie und das denkende Vermögen zu wenden. Es ist wahr, die lyrische Poesie sucht die Musik, wie die Musik ihrerseits das deutende Wort sucht, aber es ist eben die Ergänzung, nicht die Steigerung der eigenen Wesenskraft, die sie anstreben. Daher wird der lyrische Dichter immer wieder auf die andere Hälfte seiner Kunst, auf die Wirkung durch bildliche Anschauung gewiesen werden. Seine Bilder entnimmt er der Außenwelt, vor allem der Natur, aber sie haben Bedeutung und Wert – das hat uns die bisherige Betrachtung gezeigt – niemals in der bloßen Wiedergabe dessen, was Natur und Landschaft den Sinnen bietet. Vielmehr sind alle Bilder und Vorgänge der äußeren Natur für ihn nur Sinnbilder innerer Vorgänge: so fordert es das Gesetz der Verinnerlichung, das, wie wir sahen, das Grundgesetz der lyrischen Kunst ist, und hierauf beruht der symbolische Charakter, welcher zwar aller Poesie überhaupt, in besonderer Weise aber der Lyrik eignet.

Von zwei Seiten aus wird die Symbolik Bedürfnis des lyrischen Dichters. Die meisten inneren Vorgänge bedürfen eines äußeren Sinnbildes, um anschaulich zu werden, d. h. um überhaupt nachempfunden werden zu können. Das liegt schon im Wesen der Sprache, die viel zu arm an Ausdrücken für das Gefühlsleben ist, um es in seinen feineren Nuancen unmittelbar widerspiegeln zu können und zu diesem Zweck fast stets des Vergleichs mit Vorgängen der äußeren Welt bedarf. Die Fähigkeit, solche Symbole zu ergreifen und mit Leben zu erfüllen, macht offenbar einen wesentlichen Teil lyrischer Begabung aus. Sie ist nicht identisch, aber doch im innersten Kern verwandt mit der metapherbildenden Kraft des Sprachgeistes. Andrerseits liegt es auch im Wesen jedes starken Gefühls, daß es auf die Außenwelt übergreift, sie in seine Bahnen zieht und erfüllt: der [127] Liebende sieht, wie Goethe einmal sagt, alles mit Bezug auf die Geliebte; der Trauernde findet überall Beziehung zu seinem Schmerz. Jenes macht uns das Bedürfnis des Dichters nach sinnbildlicher Ausdrucksweise verständlich; in diesem liegt der größte Teil der Erscheinung, die heutige Ästhetiker als Einfühlung zu bezeichnen pflegen, begründet. Der Dichter belebt die Gegenstände der Natur mit seinen eigenen Gefühlen, er belebt sie, bis sie ihm als selbständige Wesen, als Personen erscheinen. Das bedeuten die Schillerschen Verse:

"Da lebte mir der Baum, die Rose,
Mir sang der Quellen Silberfall;
Es fühlte selbst das Seelenlose
Von meines Lebens Wiederhall."

"Wo das Objekt auch nur von Ferne an Menschliches gemahnt", sagt du Prel, 1) "beseele ich es menschlich, vermöge der wunderbaren Fähigkeit der Phantasie, sich in äußere Objekte hineinzuleben. Ein steiler Fels scheint trotzig die Stirne zu erheben; ein Bach springt fröhlich den Wiesenhang hinab; Blumen lachen uns freundlichen Auges an". – In der Naturbeseelung decken sich also die äußeren Formen der Dinge mit den ihnen untergelegten Empfindungen. Die Formen mögen starr sein oder veränderlich, immer sind sie uns der äußerliche Ausdruck eines geheimnisvollen Innern, das wir uns in menschlicher Art vorstellen, weil wir außer dieser Analogie gar keinen anderen Maßstab des Verständnisses haben. Wir, deren Mienen und Geberden so innig verflochten sind mit unseren Seelenzuständen, daß das jeweilige äußerliche Verhalten unseres Leibes bis in die Fingerspitzen durchgeistigt ist, wir schauen auch aus den Gestalten der Naturobjekte und aus ihren Tätigkeiten, wenn sie noch so leise an menschliches Verhalten mahnen, die korrespondierenden menschlichen Empfindungen heraus. Kurz, weil unsere Leiblichkeit immer ganz und gar der äußere Ausdruck eines ganz bestimmten Innern ist, so erscheinen uns auch die leblosen Dinge bis in die letzten Ausläufer ihrer Formen beseelt. Darauf beruht die ästhetische Wirkung aller landschaftlichen Objekte; auch leblose Dinge erfüllen wir mit Freud und Leid, mit Liebe und Haß, und dadurch erst treten sie uns ästhetisch nahe." Und durchaus dichterisch empfunden ist, was Hebbel einmal in sein Tagebuch schreibt (Tagebücher, herausg. von R. M. Werner Nr. 1083): "Welch hohe Freudigkeit der Seele, welch ein Mut für alle Zukunft im Menschen erwacht, wenn ihm die zwischen den ewigen, den Fundamentalgefühlen in seinem Innern und den Erscheinungen der Natur bestehende untrennbare Harmonie in klarem Lichte aufgeht, das scheint niemand zu wissen."

[128] Die Atmosphäre der Poesie ist gewissermaßen voll von dichterischen Symbolen, viele in ihre Entstehung hinein nicht zu verfolgen, viele in langer Überlieferung schon bis zu einem gewissen Grade abgetrocknet und leicht von einem zum anderen übertragbar. Die ritterliche Lyrik und das spätere Volkslied zeigen uns das in gleichem Maße. Immer wieder dieselben Bilder, immer wieder Vogelsang und Blumen. Dazwischen freilich ursprünglichere Wendungen:

"Die tiefen tiefen Wasser, die haben keinen Grund"

und ähnliches. Starrer als das Volkslied zeigt sich auch hier die Poesie der Renaissance. Ihre Symbole und Personifikationen, vor allem der Olymp mit seinen stereotypen Gestalten, dauern bis in die Zeit jugendlich neuer Dichtung hinein fort, und selbst in einem Gedicht so voll ursprünglicher Frische und eigenen Sprachlebens wie Goethes "Willkommen und Abschied" mutet uns ein "Götter!" in der letzten Zeile an wie ein abgestorbenes Stück Holz zwischen blühenden Zweigen. Denn die Kunst des lyrischen Genius, vor allem Goethes, besteht eben darin, neue Symbole zu schaffen, alte neu zu beleben. Der Mond und die Sterne gewinnen neuen Glanz, Wind und Welle werden zu Sinnbildern für Menschenseele und Schicksal. Am farb'gen Abglanz des Wasserfalls haben wir das Leben; das Haideröslein und das im Wald gefundene Blümchen spiegeln Mädchenseele und Frauengeschicke wieder. – Den Geist volkstümlicher Symbolik wissen die Romantiker, zumal die jüngeren, wohl zu treffen ("In einem kühlen Grunde da geht ein Mühlenrad"), und Heine hat besonders mit Bildern des Meeres und seiner Bewegung die lyrische Symbolik bereichert.

Der eigentümlichste Reiz dieser Darstellungsart besteht nun darin, daß die symbolische Bedeutung abwechselnd bald hinter dem Bilde selbst zurücktritt, bald wieder stärker zum Bewußtsein kommt. In Mahomets Gesang z. B. läßt sich dieser Wechsel deutlich verfolgen. Im Gesang der Geister über den Wassern tritt der gedankenhafte Sinn des Gedichtes, den wir freilich schon im Verlauf der Schilderung immer deutlicher ahnen, erst am Schluß hervor, und mit besonders überraschender Anmut erfolgt die Wendung vom rein Bildlichen zum Sinnbildlichen in folgenden Versen Heines:

Es ziehen die brausenden Wellen
Wohl nach dem Strand;
Sie schwellen und zerschellen
Wohl auf dem Sand.

Sie kommen groß und kräftig,
Ohn' Unterlaß
Sie werden endlich heftig –
Was hilft uns das?

Umgekehrt richtet Gottfried Keller in einem ebenso graziösen wie tiefsinnigen kleinen Gedicht die Spannung auf einen Gedanken, den er dann mit einer nicht minder überraschenden Wendung nur symbolisch ahnungsvoll ausdrückt:

[129] Du milchjunger Knabe,
Wie siehst du mich an?
Was haben deine Augen
Für eine Frage getan!

Alle Ratsherrn der Stadt
Und alle Weisen der Welt
Bleiben stumm auf die Frage,
Die deine Augen gestellt!

Ein leeres Schneckhäusel,
Schau, liegt dort im Gras;
Da halte dein Ohr dran,
Drin brümmelt dir was!

Man kann in der Tat sagen, daß für den echten Lyriker alles, was ihm die Außenwelt bietet, zum Symbol des Innenlebens, jeder Eindruck der Natur zum Sinnbild seiner Gefühle wird. Ja, es gibt einige wertvolle lyrische Gedichte, deren Thema eben diese Tatsache bildet. Schon die S. 124 f. angeführten Verse gehören in diese Reihe; aber bis ins Mystische vertieft und erweitert gibt den Gedanken der All-Symbolik das letzte Gedicht des Buches Suleika im westöstlichen Divan wieder:

In tausend Formen magst du dich verstecken,
Doch, Allerliebste, gleich erkenn' ich dich;
Du magst mit Zauberschleiern dich bedecken,
Allgegenwärt'ge, gleich erkenn' ich dich.

An der Zypresse reinstem, jungem Streben,
Allschöngewachs'ne, gleich erkenn' ich dich;
In des Kanales reinem Wellenleben,
Allschmeichelhafte, wohl erkenn' ich dich.

Wenn steigend sich der Wasserstrahl entfaltet,
Allspielende, wie froh erkenn' ich dich;
Wenn Wolke sich gestaltend umgestaltet,
Allmannigfalt'ge, dort erkenn' ich dich.

An des geblümten Schleiers Wiesenteppich,
Allbuntbesternte, schön erkenn' ich dich;
Und greift umher ein tausendarm'ger Eppich,
O Allumklammernde, da kenn' ich dich.

Wenn am Gebirg der Morgen sich entzündet,
Gleich, Allerheiternde, begrüß' ich dich;
Dann über mir der Himmel rein sich ründet,
Allherzerweiternde, dann atm' ich dich.

Was ich mit äußerm Sinn, mit innerm kenne,
Du Allbelehrende, kenn' ich durch dich;
Und wenn ich Allahs Namen hundert nenne,
Mit jedem klingt ein Name nach durch dich.

Ihm entspricht ein vielleicht unter seinem Einfluß entstandenes Gedicht Heines, das wie das oben angeführte zu seinen unbekannteren gehört und deshalb gleichfalls hier abgedruckt werden mag.

Jegliche Gestalt bekleidend,
Bin ich stets in deiner Nähe,
Aber immer bin ich leidend,
Und du tust mir immer wehe.

Wenn du, zwischen Blumenbeeten
Wandelnd in des Sommers Tagen,
Einen Schmetterling zertreten –
Hörst du mich nicht leise klagen?

Wenn du eine Rose pflückest,
Und mit kindischem Behagen
Sie entblätterst und zerstückest –
Hörst du mich nicht leise klagen?

Wenn bei solchem Rosenbrechen
Böse Dornen einmal wagen
In die Finger dich zu stechen –
Hörst du mich nicht leise klagen?

Hörst du nicht die Klagetöne
Selbst im Ton der eignen Kehle?
In der Nacht seufz' ich und stöhne
Aus der Tiefe deiner Seele.

Wie diese Verse zeigen, kann es vorkommen, daß der Gedanke eines Gedichts eine Vielheit der Symbole fordert, um zu anschaulichem Ausdruck zu kommen. Wir werden sehen, daß dies in der reflektierenden Poesie weit öfter der Fall ist, als in der rein gefühlsmäßigen Lyrik. Hier wird im allgemeinen das einheitliche Erlebnis, das zum Ausdruck kommen soll, auch eine gewisse Einheitlichkeit der Symbolik, einen Zusammenschluß der Bilder zu einem Ganzen fordern. Man betrachte z. B. die Eichendorffschen Verse:

Dämmrung will die Flügel spreiten,
Schaurig rühren sich die Bäume,
Wolken ziehn wie schwere Träume –,
Was will dieses Graun bedeuten?

Hast ein Reh du lieb vor andern,
Lass' es nicht alleine grasen,
Jäger ziehn im Wald und blasen,
Stimmen hin und wider wandern.

Hast du einen Freund hienieden,
Trau ihm nicht zu dieser Stunde,
Freundlich wohl mit Aug' und Munde,
Sinnt er Krieg im tück'schen Frieden.

Was heut' müde gehet unter,
Hebt sich morgen neu geboren.
Manches bleibt in Nacht verloren –
Hüte dich, bleib wach und munter!

Eine Reihe an sich verschiedener sinnbildlicher Anschauungen, die sich gleichwohl zu einem ganz einheitlichen Stimmungsbild zusammenschließen. Wo diese Einheit fehlt oder nicht deutlich erkennbar ist, da wird das Gedicht als Ganzes etwas Undeutliches und Unklares erhalten, das nicht nur das Verständnis im engeren Sinne, sondern auch das Nachfühlen erschwert und den Eindruck zersplittert. Dies ist z. B. in Goethes Harzreise der Fall; man vergleiche sie nur mit dem so viel fester gefugten Schwager Kronos, der ihr der Anlage nach verwandt ist. In dieser einheitlichen Ausgestaltung beruht ein wesentlicher Teil der formgebenden Arbeit des lyrischen Dichters.

Nach allem, was wir von der Bedeutung des Symbolischen für die Lyrik gesehen haben, kann sich nun wohl die Frage aufdrängen, welchen Sinn es hat, wenn eine moderne Richtung die Bezeichnung Symbolismus annimmt und damit zugleich den Anspruch erhebt, die Kunst sinnbildlicher Darstellung in besonderer Weise verstanden und durchgeführt zu haben. Über diese Erscheinung mögen einige Worte aufklären; sie gehört eigentlich in die Geschichte der modernen Literatur, ist aber doch auch prinzipiell für das Wesen der Lyrik bedeutsam.

[131] Der Symbolismus ist zunächst eine spezifisch französische Erscheinung, eine Reaktion gegen die allzu ausgeprägte Verstandesmäßigkeit, welche der französischen Lyrik im allgemeinen eignet, gegen die allzu ausgeprägte Klarheit und Schärfe der Umrisse, welche insbesondere die sogenannten Parnassiens anstrebten. Daher ruft er, wie wir oben sahen, zunächst das musikalische Element zu Hilfe als ein Gegengewicht gegen das rhetorische, das die französische Poesie bis dahin fast ausschließlich beherrschte. "De la musique avant toute chose", heißt es in einem programmatischen Gedicht Paul Verlaines. Aber wesentlicher ist noch, daß die Symbolisten überhaupt nach Auflösung der festen Umrisse streben, daß sie sich gegen die allzu scharfe Deutlichkeit der Bezeichnungen und Schilderungen wenden. La contemplation des objets", sagt Stephan Mallarmé, "l'image s'envolant de rêveries suscitées par eux, sont le chant: les Parnassiens, eux, prennent la chose entièrement et la montrent; par là, ils manquent de mystères; ils retirent aux esprits cette joie délicieuse de croire qu'ils créent. Nommer un objet, c'est supprimer les trois-quarts de la jouissance du poème qui est faite du bonheur de deviner peu, le suggérer voilà le rève." 1) Und in demselben Sinne heißt es in dem oben angeführten Gedicht Verlaines:

Il faut aussi que tu n'ailles point
Choisir tes mots sans quelque méprise,
Rien de plus cher que la chanson grise
Où l'Indécis au Précis se joint. . .

Hiermit hängt denn auf das engste zusammen, daß statt des eigentlichen und verstandesmäßigen Ausdrucks das Symbol zu Hilfe gerufen wird.

Soweit ist der Symbolismus nichts anderes als die Einführung der Prinzipien echter Lyrik in die französische Poesie, die sie bisher kaum gekannt hatte. Das Gedicht soll dem Verstande nichts sagen, sondern nur dem Gefühl und der Phantasie vermitteln, was es sagen will. Dieser an sich richtige Satz nun aber wird von den Symbolisten mit der Einseitigkeit durchgeführt, die Reaktionserscheinungen eigen zu sein pflegt. Jede gedankenhaft faßbare Einheit wird ausgeschlossen. Der Symbolist reiht nicht nur verschiedene Bilder aneinander, sondern er löst das einzelne auch noch in seine Elemente auf und setzt an Stelle der Bedeutung, welche dem Gesamtbild zukommen kann, die Gefühle, welche die einzelnen Elemente, Farbe, Ton, Gerüche u.s.w., erwecken. Zwischen den elementaren Eindrücken der verschiedenen Sinne entdeckt er sodann Verwandtschaften, Parallelen, die selbstverständlich nicht verstandesmäßig erfaßt, sondern nur nachgefühlt werden können.

[132] La Nature est un temple où de vivants piliers
Laissent parfois sortir de confuses paroles;
L'homme y passe à travers des forêts de symboles
Qui l'observent avec des regards familiers.

Comme de longs échos qui de loin se confondent,
Dans une ténébreuse et profonde unité,
Vaste comme la nuit et comme la clarté,
Les parfums, les couleurs et les sons se répondent. 1)

Diese Verse Beaudelaires [sic] bezeichnen die charakteristische Grundanschauung. Bisweilen wird diese Methode mit einer eigentümlichen Mischung von Raffinement und Pedanterie durchgeführt; das berüchtigte Sonett Artur Rimbauds über die Bedeutung der Vokale gibt eine naiv drastische Anleitung dazu. Bisweilen auch gelingt es einem wirklichen Dichter wie Verlaine, der übrigens keineswegs im Banne der Schule geblieben ist, ein echtes Gedicht auf dieser Grundlage zu schaffen; das S. 83 angeführte ist ein Beispiel davon. Im ganzen aber fehlt dieser Art von Poesie der Inhalt. Jedes Sinnbild bedarf eines Sinnes, wenn es nicht, wie ein loses Märchen verklingend, täuschen soll: und gerade dieser wird ihm hier versagt. 2) Es ist die bloße Stimmung, die hier die verschiedensten Elemente zusammenhalten soll. Nichts als der Ausdruck einer solchen Stimmung will das symbolistische Gedicht sein und es nähert sich auch hierin wieder der Musik.

Die Einseitigkeit der französischen Lyrik erklärt sich, wie gesagt, aus ihrer Vorgeschichte. Dem französischen Dichter kann es, wenn er die ältere Lyrik seiner Literatur betrachtet, wohl scheinen, als ob Faßlichkeit des Inhalts und Bestimmtheit der Anschauung ein für allemal Kraft und Tiefe der Stimmung beeinträchtigen müssen. Nicht so dem Deutschen. Ihm müssen die großen Lyriker seines Volks von Goethe bis Heine, ihm müssen besonders Eichendorff und Mörike, deren Formbehandlung sehr oft der der modernsten Dichtung nahe kommt, gelehrt haben, daß sich Bestimmtheit des Erlebnisses und der Anschauung sehr wohl mit jener Zartheit der Umrisse, jener Tiefe der Stimmung, jenem musikalischen Elemente der Poesie vereinigen lassen, die der Symbolismus sucht. Es ist daher eine Verirrung, [133] wenn sich lyrische Talente wie Stefan George und in seinen Anfängen auch Hugo von Hofmannsthal durch das Vorbild und die Theorie der Franzosen zur Nachahmung verführen lassen, statt die große deutsche Tradition fortzusetzen.

Ein Gedicht von Stefan George, das keineswegs zu seinen schlechtesten gehört, möge die Beziehung zu der symbolistischen Theorie, besonders zu den S. 131 (zweiter Absatz) angeführten Sätzen veranschaulichen und das ausgesprochene Urteil bestätigen:

Beträufelt an baum und zaun
Ein balsam das sprocke holz?
Verspäteter sonnen erglühn
Die herbstlichen farben verschmolz
Rotgelb. gesprenkeltes braun
Scharlach und seltsames grün.

Wer naht sich dem namenlosen
Der fern von der menge sich härmt?
In mattblauen kleidern ein kind ..
So raschelt ein schüchterner wind
So duften sterbende rosen
Von scheidenden strahlen erwärmt.

An schillernder hecken rand
Bei dorrenden laubes geknister
Und lichter wipfel sang
Führen wir uns bei der hand
Wie märchenhafte geschwister
Verzückt und mit zagendem gang

Jedes lyrische Gedicht ist, wie wir sahen, die Darstellung eines Gefühlserlebnisses, eines inneren Zustandes, einer Stimmung. Dieses innere Erlebnis wird, soweit wir es bisher verfolgten, durch einen äußeren Vorgang hervorgerufen. Es kann nun aber auch einen rein innerlichen Ursprung haben, durch einen Vorgang in der Gedankenwelt des Dichters verursacht sein. 1) Philosophische Gedanken, Reflexionen und allgemeine Anschauungen sind an sich verstandesmäßig und bilden daher so wenig unmittelbar einen Gegenstand für die Lyrik wie Ereignisse der äußeren Welt. Aber wo sie tief in der Persönlichkeit des Dichters wurzeln, wo sie für sein ganzes Seelenwesen Bedeutung haben, da vermögen sie nicht minder starke Affekte auszulösen, wie jene Ereignisse des äußeren Lebens. Für den denkenden Dichter ist ein neuer Gedanke unter Umständen ein ebenso entschiedenes und entscheidendes Erlebnis wie eine neue Liebe. Daher ist denn auch die Grenze zwischen Gefühls- und Gedankenlyrik [134] keine feste und starre, wie es überhaupt in der Kunst nirgends starre Grenzlinien gibt. Je stärkere und tiefere Gefühle ein Gedanke auslöst, desto mehr schwindet sein abstrakter Charakter, und diese Wirkung hervorzurufen, ist die Kunst des Gedankendichters; je tiefer und echter also diese Kunst, desto enger berühren sich beide Gattungen der Lyrik. Gehören Gedichte wie "Prometheus" und die "Grenzen der Menschheit", gehört Rückerts "sterbende Blume" der einen oder der anderen an? Allgemeine Gedanken sind hier zu so tief ergreifenden Gefühlserlebnissen geworden, daß solche Gedichte ganz den Charakter der Gefühlslyrik tragen, und Schillers Dichtung zeigt uns, daß die Tiefe der Gefühlsresonanz noch weit abstraktere Ideen künstlerisch gestalten und zu echt lyrischer Wirkung zu bringen vermag. Nur wo dieses Verhältnis zwischen Gedankenwelt und Gefühlsleben vorhanden ist, kann eine philosophische Lyrik entstehen. Andernfalls bleibt die Reflexionspoesie im Didaktischen stecken; 1) es entstehen Lehrgedichte im alten Sinne des Wortes, die mit der Poesie nichts gemeinsam haben als die äußere Form. Wir kennen sie aus dem siebzehnten und der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts; aber auch Rückert hat, besonders in der Weisheit des Brahmanen, vielfach trockene und lehrhafte Gedankengänge moralischen oder metaphysischen Inhalts in glatte Verse gebracht. Nur große und bedeutsame Ideen können es ein, die das Gefühlsleben tief berühren, Ideen, welche die Begeisterung des Dichters und seiner Leser zu erwecken vermögen und eben hierdurch dem Verstandesmäßigen die künstlerische Wendung geben. Sehr richtig drückt Körner dieses Verhältnis in einem Brief an Schiller aus (Briefwechsel I S. 282). "Wahrheiten können ebenso gut begeistern als Empfindungen, und wenn der Dichter nicht bloß lehrt, sondern seine Begeisterung mitteilt, so bleibt er in seiner Sphäre. Was der Philosoph beweisen muß, kann der Dichter als einen gewagten Satz, als einen Orakelspruch hinwerfen. Die Schönheit der Idee macht, daß man es ihm aufs Wort glaubt." Wo aber ein Kreis solcher Ideen vorhanden ist, aus dem der Dichter schöpft, da kann sogar ein einzelner scheinbar trockener und fachwissenschaftlicher Gedanke Gefühlswärme empfangen und Begeisterung erregen, wie das Goethes beide Gedichte "Die Metamorphose der Pflanzen" und "Die Metamorphose der Tiere" mit schöner Deutlichkeit zeigen.

Zwei solche Gedankenkreise sind es nun, die in der deutschen Dichtung besonders bedeutungsvoll hervortreten; die moralisch ästhetische Ideenwelt Schillers und die pantheistische Weltanschauung Herder-Goethes. [135] "Schiller", sagt Dilthey, 1) "fand einen eigenen lyrischen Ausdruck für die große Emotion der Zeit, die auf die Verwirklichung der idealen Werte in einer neuen Menschheit gerichtet war. Der lyrische Stil, den er entdeckte, war gänzlich verschieden von dem, welchen Pindar, Klopstock und Goethe für den Seelenvorgang gefunden haben, der von großen Gegenständen aus im Gemüt hervorgebracht wird. Schiller löste seine Aufgabe durch eine der Gedankenlyrik gemäße Behandlung des gereimten Verses. Er verband wirkungsstarke Perioden zu einem einzigen breit ausladenden Ganzen. Dabei bediente er sich jedes Mittels der Sprache, die Gliederung des inneren Vorgangs durch einen äußeren Zusammenhang sichtbar zu machen. Das starke, aber dunkle Gefühl, das ein großer Gegenstand hervorruft, wird an dessen Teilen entfaltet, bis alle seine Momente zum Bewußtsein erhoben sind und nun so im Gemüt zusammengehalten werden. Besonders wirkungsvoll ist das Anschwellen des Gemüts, welches Teil auf Teil der ideellen Anschauung aneinanderfügt in lauter parallelen großen Perioden, bis dann in der Mitte des Gedichts die seelische Bewegung gemäß der Gesetzlichkeit des Gefühls wieder sinkt. So durchläuft das Gedicht "Die Götter Griechenlands" zuerst alle Bestandteile dieser göttlichen Welt, mit jedem derselben steigert sich das Gefühl ihrer Schönheit, immer wieder erfüllt und bestätigt dies Gefühl sich an neuen Teilen der Anschauung: bis dann plötzlich hieraus die unendliche Sehnsucht und ein grenzenloses Gefühl des Verlustes hervorbricht und sich die Seele nun hineinwühlt in jede Tatsache, die diesen Verlust verdeutlicht. So entsteht ein neuer großzügiger Rhythmus, die Energie im Wachstum des Gefühls ausdrückend, das aus der Vertiefung in die Teile des ideellen Gegenstandes hervorgeht, aus dem leidenschaftlichen Vorgezogenwerden von Teil zu Teil." Schiller fand nur einen Nachfolger, der diese Höhe zu behaupten vermochte: Hölderlin. "Niemand", so schreibt Dilthey zu Recht, "neben oder nach Hölderlin ist dieser Form Schillers gewachsen gewesen." Wenn Schillers dichterische Unmittelbarkeit so oft verkannt wird, wenn die meisten Literaturhistoriker der Gegenwart dazu neigen, in seiner Gedankenlyrik nur Erzeugnisse des Willens und der Reflexion zu sehen, so liegt das daran, daß sie verkennen, wie tiefes Erlebnis für ihn das Ringen um philosophische Erkenntnis mit seinen Zweifeln und Siegen war, was der Wechsel der Lebensanschauung von Shaftesbury zu Kant für sein Gefühlsleben bedeutete.

Leichter freilich als in diesen abstrakten Gedankengängen ist in einer Weltanschauung, die in allen Teilen der Natur, in allen Vorgängen der menschlichen Seele unmittelbare Äußerungen göttlicher Kräfte sucht und findet und alle diese Kräfte zu einer unendlichen, welterfüllenden Einheit zusammenfaßt, das gefühlsmäßige Element und die begeisternde Macht zu entdecken. Sind doch die mystische Gottesliebe Spinozas und zugleich [136] die Schönheitstrunkenheit einer durch und durch künstlerischen Weltanschauung die Lebensquelle, aus denen die Lehre des Pantheismus, wie sie sich in und mit unserer klassischen Dichtung entwickelt hat, ihre Kräfte zieht. Von Goethes herrlicher Jugendschöpfung, dem Wanderer, an bis zu den tiefsinnigen Dichtungen, die der Greis in "Gott und Welt" zusammenfaßte, zeigt uns seine Gedankenlyrik durchweg jene Fülle und Wärme der Empfindung, jenen Enthusiasmus des Schauens, welcher die Reflexion zur Poesie macht. Und wie seine Weltanschauung, so hat auch ihr dichterischer Ausdruck tief ins neunzehnte Jahrhundert hinein nachgewirkt. So viel Trockenes und Undichterisches die allzu zahlreichen Bände Rückertscher Lyrik enthalten, so sollte man doch nicht vergessen, daß er in einer Reihe von Gedichten wahrhaft ersten Ranges die Tradition Goethischer Gedankenlyrik aufgenommen und ihres Begründers würdig fortgesetzt hat: die sterbende Blume, Waldstille, Trauerlieder, Kindertotenlieder u. ähnl. Unter den heute noch lebenden Dichtern ist es besonders der viel zu wenig gewürdigte Arthur Fitger, der mit ähnlicher Tiefe der Gedanken und Kraft der Empfindungen die gleiche Weltanschauung, wenn auch in modernen Wendungen, zum künstlerischen Ausdruck gebracht hat. In allen diesen Gedichten hat der Pantheismus die Wärme und den gefühlsmäßigen Inhalt der Religion, und wenn man das Wort nur allgemein genug nimmt, so kann man diese Art der Gedankenlyrik wohl als religiöse Dichtung bezeichnen.

Tatsächlich zeigt ein Blick auf die geistliche Dichtung im engeren Sinne das gleiche Gesetz. In ihren wertvollsten Erzeugnissen, wie Luthers und Paul Gerhards Liedern, ist sie echte Lyrik, und die allgemein christlichen oder dogmatischen Gedanken dienen nur dazu, religiöse Empfindung und Begeisterung auszulösen. Wo dagegen die Reflexion, insbesondere die moralisierende, allzu entschieden und scharf hervortritt, wie bei Gellert, da bleibt sie lehrhaft und unpoetisch, selbst wenn sie Gedanken behandelt, die an sich, wie z. B. die Liebe zu den Mitmenschen, gar wohl einer dichterischen Behandlung fähig wären.

Während nun aber in der Gefühlslyrik das äußere Erlebnis von dem inneren gleichsam aufgezehrt erscheint und nur in seinen allgemeinsten Umrissen noch sichtbar ist, bleiben in der Ideendichtung die Gedanken notwendigerweise in voller Schärfe und Klarheit erkennbar, nur daß sie von den Gefühlen, die sie hervorrufen und beherrschen, gleichsam getragen werden. Ein Verschwimmen der Umrisse, das in der Gefühlslyrik reizvoll sein kann, wird hier immer als peinliche Unklarheit empfunden werden. Gleichwohl bedarf die Gedankendichtung im allgemeinen nicht weniger wie die Gefühlslyrik der symbolischen Darstellung. Nur wo, wie in Goethes Metamorphose der Tiere und der Pflanzen, der Gedanke an sich im Anschaulichen bleibt, braucht der Dichter das Sinnbild nicht, sonst aber fordert gerade der abstrakte Gedanke in der poetischen Behandlung die symbolische Anschaulichkeit, wenn er nicht lehrhaft und unkünstlerisch wirken [137] soll. Schiller war sich darüber völlig klar. "Wenn", schreibt er an Goethe, "etwas Intellektuelles oder überhaupt Vernunftmäßiges schön werden soll, so muß es erst sinnlich und ein Gegenstand der Einbildungskraft werden." 1) Während indessen die Darstellung des reinen Gefühlserlebnisses im allgemeinen, wie wir oben sahen, der Einheit oder wenigstens Einheitlichkeit des Symbols bedarf, um selbst zusammenhängend und einheitlich zu wirken, wird dem reflektierenden Gedicht diese Einheit durch den Gedanken selbst gegeben, und es ist sehr wohl möglich, diesen Gedanken in seinen verschiedenen Wendungen durch sehr verschiedene Sinnbilder zur Darstellung zu bringen, ohne daß der Zusammenhang dadurch locker oder unklar würde. Schiller verfährt fast immer so; in Ideal und Leben wie im Glück drängt geradezu ein Bild das andere, ohne daß die Einheitlichkeit des Eindrucks dadurch verlöre. Wo es freilich der Gedanke und die Natur des Symbols zulassen, wird es die künstlerische Wirkung erhöhen, wenn ein einheitliches Sinnbild in seinen verschiedenen Teilen und Wendungen den Gedankengang ganz und gar aufnimmt. Das ist in den früheren Gedankendichtungen Goethes "Adler und Taube", "Mahomets Gesang", "Prometheus" u.s.w. der Fall. Und Rückert hat in der sterbenden Blume, Fitger im Gottesurteil, um nur einige Beispiele anzuführen, diese Einheit des Sinnbildes aufs schönste durchgeführt. –

Zur Gedankenlyrik zählen auch die kurzen Versgebilde, die man als Epigramme oder Sinngedichte zu bezeichnen pflegt. Der Name wird herkömmlicherweise sehr allgemein gebraucht und auf jedes kurze Gedicht angewendet, das nur einen Gedanken zum Ausdruck bringt; So faßt [138] Goethe unter der Überschrift Epigrammatisch die mannigfaltigsten kurzen Einfälle zusammen, und auch in Logaus Sinngedichten finden wir Verse verschiedensten Inhalts und Charakters. Allein eine deutliche Scheidung läßt sich gleichwohl ohne Schwierigkeit und mit Vorteil für das Verständnis durchführen. 1) Wo der Gedanke in seiner allgemeinen Bedeutung kurz und einfach vorgetragen wird, ist die Bezeichnung Spruch oder Sentenz (Gnome) besser am Platz als der Name Epigramm. So Logau's:

"Ein Mühlstein und ein Menschenherz wird stets herumgetrieben,
Wo beides nichts zu reiben hat, wird beides selbst zerrieben."

Oder Goethes:

"Alles in der Welt läßt sich ertragen,
Nur nicht eine Reihe von guten Tagen."

Für das Epigramm im engeren Sinne aber ist charakteristisch, daß der Gedanke stets mit einer überraschenden Wendung auf eine kurze Exposition folgt, somit als Schlußspitze erscheint. Schon Lessing hat die Zweiteilung des Epigramms und seine Zuspitzung als die wesentlichen Eigenschaften dieser Gedichtform angesehen. Die Namen Erwartung und Aufschluß, mit denen er die beiden Teile bezeichnete, passen freilich nicht überall, und Werners Ausdrücke Erlebnis und Einfall (S. 179 f.) sind treffender, obgleich sie nur die subjektive Seite, die Entstehung des Gedichts, bezeichnen. Grundlage und Spitze, Exposition und Pointe dürfte das Verhältnis am besten bezeichnen. Goethe, "Den Originalen":

Ein Quidam sagt: "Ich bin von keiner Schule!
Kein Meister lebt, mit dem ich buhle;
Auch bin ich weit davon entfernt,
Daß ich von Toten was gelernt."
Das heißt, wenn ich ihn recht verstand:
"Ich bin ein Narr auf eigne Hand."

In der Natur solcher überraschender Wendungen liegt es, daß sie zumeist auf komische Wirkungen abzielen. Und in der Tat ersetzt in den meisten Epigrammen der Witz das Stimmungselement, welches jeder Gedankendichtung eignen muß. Wenn das Epigramm mehr als ein belangloser Einfall sein soll, so wird seinem Witz eine tiefere Bedeutung zukommen müssen; so faßt es auch Goethe:

Sei das Werte solcher Sendung
Tiefen Sinnes heitre Wendung.

Mit diesem Motto überschreibt er seine epigrammatischen Gedichte. Daher wird das Epigramm im engeren Sinne hauptsächlich der Satire dienen, die [139] witzige Spitze wird zugleich eine aggressive sein, die überraschende Wendung eine polemische, sei es, daß sie sich gegen einzelne Personen richtet (Invektive), sei es, daß sie allgemeine Richtungen und Zustände trifft. Sehr häufig werden diese letzteren in fingierten Personen gegeißelt, da Witz und Angriff dadurch schlagender und wirksamer erscheint. Schon Martial verstand sich auf diese Methode, und Lessing ahmt sie ihm in fast allen seinen Sinngedichten nach. Goethe macht es sich mit der Überschrift Mamsell N. N. einigermaßen leicht, aber auch er bewegt sich fast durchweg einem fingierten Du oder Ihr gegenüber. Ihre gemeinsamen Xenien freilich haben Schiller und Goethe direkt an bestimmte persönliche Gegner gerichtet.

Mit dem Epigramm in seiner ausgesprochen verstandesmäßigen Natur haben wir uns der Grenze der Poesie genähert: wir wenden uns nunmehr wiederum ihrem zentralen Gebiete zu und fassen zunächst die epische Dichtung ins Auge.

 

 

[Die Anmerkungen stehen als Fußnoten auf den in eckigen Klammern bezeichneten Seiten]

[119]  1) In seinem ebenso schönen wie lehrreichen Buche: Das Erlebnis und die Dichtung, Leipzig 1906, S. 273.   zurück

[121]  1) Daher ist auch die herkömmliche Einteilung der Lyrik nach dem äußeren Anlaß (z. B. Liebes- Natur- und politische Lyrik) für das Wesen der lyrischen Kunst belanglos, und die sehr eingehende Einteilung, die R. M. Werner S. 110-157 seines oben angeführten Buches entwirft, mag zwar für die äußere Übersicht über das Vorhandene praktisch brauchbar sein, aber für das Wesen der Lyrik ist sie wenig belehrend.   zurück

[123]  1) Beiträge zu einer Ästhetik der Lyrik (Halle 1905) S. 9. Der Ausdruck gnomisch ist offenbar verfehlt, aber was er bezeichnen will, ist an sich richtig.   zurück

[127]  1) S. 88 und 124 seiner oben genannten Psychologie der Lyrik. Die wertvollere zweite Hälfte dieses Buches enthält eine Reihe belehrender Studien und reiches Material zur Frage der Symbolik in der lyrischen Dichtung.   zurück

[131]  1) STÉPHANE MALLARMÉ: Enquête sur l'Evolution Littéraire, 1891.   zurück

[132]  1) Interessant ist es, mit diesen Versen folgende Zeilen Friedrich de la Motte Fouqués zu vergleichen:
                          Linde säuseln kühle Lüfte,
                          Und im süßen Himmelsglanze
                          Bilden spielend sich zum Kranze
                          Töne, Worte, Farb' und Düfte.   zurück

[132]  2) Sehr richtig sagt Ferd. Brunetière (L'évolution de la poésie lyrique en France. Paris 1901, S. 253): "Tout symbole suppose une idée sans le support de laquelle il n'est qu'un conte de nourrice; et toute symbolique implique ou exige, à vrai dire, une métaphysique, j'entends une certaine conception des rapports de l'homme avec la nature ambiante ou, si vous l'aimez mieux, avec l'inconnaissable."   zurück

[133]  1) Es kann vorkommen, ist aber keineswegs notwendig, daß dieses "Gedankenerlebnis" seinerseits auf einen äußeren Vorgang zurückzuführen ist, so daß diesem dann doch ein indirekter Einfluß auf die Entstehung zukommt. R.M. Werner scheint diese Notwendigkeit allerdings vorauszusetzen (Lyrik und Lyriker S. 100 f.). Gleichwohl schränkt er im Folgenden die Bedeutung des äußeren Erlebnisses für die Gedankenlyrik so vielfach ein, daß nichts Greifbares mehr übrig bleibt, und jedenfalls pflichte ich von meinem Standpunkt aus dem Ergebnis vollständig bei, zu dem Werner S. 172 kommt: "Daß für den Dichter die Gedankenerlebnisse wie die äußeren Erlebnisse wirken müssen, daß sie Gefühlserlebnisse in ihm erregen und daß erst dadurch ein lyrisches Gedicht entsteht." Der Abschnitt über Gedankenlyrik gehört zu den wertvollsten Teilen des Wernerschen Buches.   zurück

[134]  1) Sehr richtig scheidet Werner gelegentlich zwischen reflektierender Gefühlslyrik und gefühlsmäßiger Gedankendichtung; nur hätte er hinzufügen sollen, daß die erstere immer eine Abschwächung der Gefühlswärme, die zweite jedoch eine Erwärmung der Gedankenwelt bedeutet. Das erstere zeigt z. B. die Liebeslyrik Shakespeares, nicht selten auch Platens und Rückerts (wie die Form des Sonetts, was wir oben schon sahen, der Reflexion besonders entgegenkommt). Das Gegenteil beweist Schillers Lyrik.   zurück

[135]  1) Das Erlebnis und die Dichtung, S. 301.   zurück

[137]  1) 1) Vortrefflich stellt R. M. Werner im Anschluß hieran das Verhältnis zwischen Gefühls- und Gedankenlyrik dar. "Vergleichen wir Gefühls- und Gedankenlyrik miteinander, so zeigt sich augenblicklich die Verschiedenheit des Weges, den beide zurücklegen, aber die Gleichheit des Ziels. Das Gefühlserlebnis geht von einem zufälligen Individuellen aus: das Bestreben des Dichters muß sein, daraus das Allgemeingültige herauszuschälen. Das Gedankenerlebnis geht vom notwendigen Allgemeinen aus: das Bestreben des Dichters ist darauf gerichtet, es mit individuellem Leben zu umkleiden. Das Gedankenerlebnis ist eine abstrakte Wahrheit, das Gefühlserlebnis eine Erscheinung der Wirklichkeit: jenes hat Notwendigkeit, dieses hat Freiheit; jenes Klarheit, dieses Fülle. Sie könnten sich also gegenseitig ergänzen, und die Phantasie des Dichters läßt beiden, was sie haben, und sucht ihnen zu geben, was ihnen fehlt: das notwendig Allgemeine muß individuelles Leben erhalten, die abstrakte Wahrheit muß in wirkliche Erscheinung treten; der Notwendigkeit muß sich Freiheit gesellen, der Klarheit die Fülle; mit einem Worte: das Gedankenerlebnis soll dem Gefühlserlebnis genähert werden, was vom Geiste seinen Ausgang nahm, wird durch die Phantasie dem Gemüte nahe gebracht. Das Umgekehrte hat beim Gefühlserlebnis statt: das individuelle Lebendige muß zum notwendig Allgemeingültigen erhoben werden, die Erscheinung der Wirklichkeit zur Wahrheit, mit der Freiheit muß sich die Notwendigkeit paaren und in aller Fülle die Klarheit sichtbar werden; das, was vom Gemüte kommt, wird durch die Einbildungskraft dem Denker erschlossen. Weder das Gefühls- noch das Gedankenerlebnis an sich ist Lyrik, sondern wird durch die Phantasie zum Lyrischen erst gemacht."   zurück

[138]  1) Eine eingehende Einteilung des Epigramms im weiteren Sinne des Worts hat Herder (Anmerkungen über das griechische Epigramm) unternommen. Doch macht R. M. Werner mit Recht dagegen geltend, daß sie das Einteilungsprinzip nicht wahrt.   zurück

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Rudolf Lehmann: Deutsche Poetik.
München: Beck 1908
(Handbuch des deutschen Unterrichts an höheren Schulen; 3,2), S. 119-139.

URL: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00070206-1
URL: http://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/001778415

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

 

 

 

Werkverzeichnis

Lehmann, Rudolf: Der Deutsche Unterricht.
Eine Methodik für höhere Lehranstalten.
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PURL: https://hdl.handle.net/2027/hvd.hnym7g

Lehmann, Rudolf: Der Deutsche Unterricht.
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URL: https://archive.org/details/derdeutscheunte00lehmgoog
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Lehmann, Rudolf: Poetik als Psychologie der Kunst.
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Jg. 9 (1907), S. 312-315.
URL: https://archive.org/details/bub_gb__bzNAAAAMAAJ
URL: http://goobiweb.bbf.dipf.de/viewer/resolver?urn=urn:nbn:de:0111-bbf-spo-4332185

Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik.
München: Beck 1908
(Handbuch des deutschen Unterrichts an höheren Schulen; 3,2).
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb00070206
URL: http://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/001778415

Lehmann, Rudolf: Der Deutsche Unterricht.
Eine Methodik für höhere Lehranstalten.
3. Aufl. Berlin: Weidmann 1909.
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/006581989

Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik.
2. Aufl. München: Beck 1919
(Handbuch des deutschen Unterrichts an höheren Schulen; 3,2).
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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer