Johann Wolfgang Goethe

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Goethe
Literatur: Pindar-Rezeption

 

Brief an Johann Gottfried Herder

 

[Wetzlar, etwa 10. Juli 1772.]      

 

Noch immer auf der Wooge mit meinem kleinen Kahn, und wenn die Sterne sich verstecken schweb ich so in der Hand des Schicksaals hin und Muth und Hoffnung und Furcht und Ruh wechseln in meiner Brust. Seit ich die Krafft der Worte στηϑος und πραπιδες fühle, ist mir in mir selbst eine neue Welt aufgegangen. Armer Mensch an dem der Kopf alles ist! Ich wohne ietzt in Pindar, und wenn die Herrlichkeit des Pallasts glücklich machte, müsst ich's seyn. Wenn er die Pfeile ein übern andern nach dem Wolkenziel schiest steh ich freylich noch da und gaffe; doch fühl ich indess, was Horaz aussprechen konnte, was Quintilian rühmt, und was tätiges an mir ist lebt auf da ich Adel fühle und Zweck kenne. Ειδως φυα, ψεφηνος ανηρ, μυριαν αρεταν ατελει νοω γευεται, ουποτ ατρεκει κατεβα ποδι, μαϑοντες pp. Diese Worte sind mir wie Schwerdter durch die Seele gangen. Ihr wisst nun wie's mit mir aussieht, und was mir euer Brief in diesem Philocktetschen Zustande worden ist.

Seit ich nichts von euch gehört habe, sind die Griechen mein einzig Studium. Zuerst schränckt ich mich auf den Homer ein, dann um den Sokrates forscht ich in Xenophon und Plato, da gingen mir die Augen über meine Unwürdigkeit erst auf, gerieth an Theokrit und Anakreon, zuletzt zog mich was an Pindarn wo ich noch hänge. Sonst hab ich gar nichts getahn, und es geht bey mir noch alles entsetzlich durch einander. Auch hat mir endlich der gute Geist [294] den Grund meines spechtischen Wesens entdeckt. Über den Worten Pindars επικρατειν δυνασϑαι ist mirs aufgegangen. Wenn du kühn im Wagen stehst, und vier neue Pferde wild unordentlich sich an deinen Zügeln bäumen, du ihre Krafft lenckst, den austretenden herbey, den aufbäumenden hinabpeitschest, und iagst und lenckst und wendest, peitschest, hältst, und wieder ausjagst biss alle sechzehn Füsse in einem Tackt ans ziel tragen. Das ist Meisterschafft, επικρατειν, Virtuosität. Wenn ich nun aber überall herumspaziert binn, überall nur drein geguckt habe . Nirgends zugegriffen. Dreingreiffen, packen ist das Wesen ieder meisterschafft. Ihr habt das der Bildhauerey vindizirt, und ich finde dass ieder Künstler so lang seine Hände nicht plastisch arbeiten nichts ist. Es ist alles so Blick bey euch, sagtet ihr mir offt. Jetzt versteh ich's tue die Augen zu und tappe. Es muss gehn oder brechen. Seht was ist das für ein Musikus der auf sein Instrument sieht. Χειρες ααπτοι, ητορ αλκιμον, das ist alles, und doch muß das Alles ein's seyn, nicht μυριαν αρεταν ατελει νοω γενειν .

Ich mögte beten, wie Moses im Koran: Herr mache mir Raum in meiner engen Brust.

Es vergeht kein Tag, dass ich mich nicht mit euch unterhalte und offt dencke wenn sichs nur mit ihm leben liesse. Es wird, es wird. Der Junge im Küras wollte zu früh mit, und ihr reitet zu schnell. Genug ich will nicht müssig seyn, meinen Weeg ziehn und das meinige tuhn, treffen wir einander wieder so giebt sich's weitere.

Seit vierzehn Tagen les' ich eure Fragmente, zum erstenmal, ich brauch' euch nicht zu sagen was sie mir sind. Dass ich euch von den Griechen sprechenden, meist erreichte hat mich ergötzt, aber doch ist nichts wie eine Göttererscheinung über mich herabgestiegen, hat mein Herz und Sinn mit warmer heiliger Gegenwart durch und durch belebt, als das wie Gedanck und Empfindung den Ausdruck bildet. So innig hab ich das genossen.

[295] Lasst uns ich bitte euch versuchen, ob wir nicht öffter zu einander tretten können. Ihr fühlt wie ihr den umfassen würdet der euch das seyn könnte was ihr mir seyd. Lasst uns nur nicht dadurch, dass wir nothwendig manchmal aneinander gerathen müssen, nicht dadurch wie Weichlinge abgeschreckt werden, stosen sich unsre Leidenschafften, können wir keinen Stos aushalten. Das gilt mich mehr als euch. Genug habt ihr was wider mich so sagts. Grad und Ernst, oder Bös, grinsend wies kommt. So will ich euch auch sagen dass ich letzt über eure Antwort auf die Felsweihe aufgebracht worden binn und hab euch einen intoleranten Pfaffen gescholten, das Götzenpriester und frecher Hand den Nahmen einzwang war nicht recht. Hatte ich unrecht einen Trauerakkord vor eurem Mädgen zugreiffen, musstet ihr mit Feuer und Schwerd dreintilgen. Ich weis wohl das ist eure Art, ihr werdet nicht davon lassen, gut. Nur macht im Fall der Walter Shändyschen Nothwehre nicht so lange Pausen.

Was den Punckt betrifft, soll euch künftig in dem Recht euerm Mädgen melankolische Stunden zu machen kein Eingriff geschehn. Und so hätt ich das auch vom Herzen.

Von unsrer Gemeinschafft der Heiligen sag ich euch nichts, ich binn νεοφυτος, und im Grund bisher nur neben allen hergegangen; mit Mercken binn ich fest verbündet, doch ists mehr gemeines Bedürfniss als Zweck.

Von Berlichingen ein Wort. Euer Brief war Trostschreiben, ich setzte ihn weiter schon herunter als ihr. Die Definitiv "Dass euch Schäckessp. ganz verdorben pp" erkannt ich gleich in ihrer ganzen Stärke, genug es muss eingeschmolzen von Schlaken gereinigt mit neuem edlerem Stoff versetzt und umgegossen werden. Dann solls wieder vor euch erscheinen.

Es ist alles nur gedacht. Das ärgert mich genug. Emilia Galotti ist auch nur gedacht, und nicht einmal Zufall oder Kaprice spinnen irgend drein. Mit halbweg Menschenverstand kann man das warum von ieder Scene, von iedem Wort, mögt ich sagen auffinden. Drum binn ich dem Stück nicht gut, so ein Meisterstück es sonst ist, und [296] meinem eben so wenig. Wenn mir im Grunde der Seele nicht noch so vieles ahndete, manchmal nur auffschwebte, dass ich hoffen könnte, wenn Schönheit und Grösse sich mehr in dein Gefühl webt, wirst du gutes und Schönes thun, reden und schreiben ohne dass du's weist warum — Lebt wohl.

Eben krieg ich No 54 Fr. Zeitung.

 

 

[Fußnote, S. 294]

‡ ich kann schreiben aber keine Federn schneiden, drum krieg ich keine Hand, das Violoncell spielen aber nicht stimmen pp.   zurück

 

 

 

 

Druckvorlage

Der junge Goethe.
Neue Ausgabe in sechs Bänden besorgt von Max Morris.
Bd. 2. Leipzig: Insel-Verlag 1910, S. 293-296.

URL: https://archive.org/details/derjungegoethene02goet
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/001780892

Editionsrichtlinien.

Erster Druck
Aus Herders Nachlaß. Ungedruckte Briefe von [...].
Hrsg. von Heinrich Düntzer und Ferdinand Gottfried von Herder.
Bd. 1. Frankfurt a.M. 1856, S. 37-43 (mit Anmerkungen).
PURL: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10403526-2
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/002139177

 

Kommentierte und kritische Ausgaben

 

 

 

Literatur: Goethe

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Brummack, Jürgen: Noch einmal: zur Pindarnachahmung bei Herder und Goethe. In: Von der Natur zur Kunst zurück. Neue Beiträge zur Goethe-Forschung. Gotthart Wunberg zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Moritz Baßler u.a. Tübingen 1997, S. 21-37.

Fantoni, Francesca: Deutsche Dithyramben. Geschichte einer Gattung im 18. und 19. Jahrhundert. Würzburg 2009 (= Epistemata; Reihe Literaturwissenschaft, 649).

Jølle, Jonas: Goethe's Translation of Pindar's Fifth Olympian Ode. In: Goethe Yearbook. Publications of the Goethe Society of North America 10 (2001), S. 50-64.

Jølle, Jonas: The Pindaric Challenge. Goethe's "Wanderers Sturmlied". In: Oxford German studies 32 (2003), S. 53-85.

Kaufmann, Sebastian: "Schöpft des Dichters reine Hand ...". Studien zu Goethes poetologischer Lyrik. Heidelberg 2011 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, 291).

Kramer, Olaf: Goethe und die Rhetorik. Berlin u.a. 2010 (= Rhetorik-Forschungen, 18).

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Schöne, Albrecht: Der Briefschreiber Goethe. 2. Aufl. München 2015.

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Literatur: Pindar-Rezeption

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