Hermann Koepert

 

Die lyrische Poesie.

 

 

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Literatur

 

§ 35. Verhältniß zur Musik.

 

Die lyrische Dichtung bringt die Empfindung zur Darstellung, und wie die Epik der bildenden Kunst, so entspricht die Lyrik der Musik. Beide gehören so innig zusammen, daß sie (wie namentlich im Liede) zusammenwirken und einander ergänzen. Und es bedarf in der That die Sprache dieser musikalischen Ergänzung, um der Empfindung zum vollen Ausdrucke zu verhelfen; sie kann ja immer nur mittelbar das ausdrücken, was unser Herz bewegt; allein die Musik vermag auf unmittelbare Weise das Gefühlsleben künstlerisch darzustellen.

Denn die Empfindung an sich ist gestaltlos; das Wort aber ist bereits eine feste Gestaltung des Tons und erweckt Gedankenbilder, Anschauungen und Begriffe, die eigentlich nicht mehr die Empfindung selbst, sondern nur ein Gleichniß, eine Uebertragung des an sich Unaussprechlichen sind. *

Trotzdem ringt die Empfindung danach, nicht bei dem begriffslosen Verstummen oder anschauungslosen Weben der Töne stehen zu bleiben, sondern sich dadurch zu einer geistigen Macht zu erheben, daß sie sich vermittelst der Sprache in die Welt der Begriffe und Anschauungen hinauswagt; so entsteht die lyrische Poesie, die Poesie der Empfindung.

 

 

§ 36. Subjektivität der Lyrik.

 

Wie die Empfindung das innerste Eigenthum jedes einzelnen Menschen ist, so kann auch die Darstellung derselben in der Poesie nur eine subjektive, von der Innerlichkeit ausgehende, sein. Dem lyrischen Dichter kommt es also nicht, wie dem epischen, darauf an, Erscheinungen der Außenwelt darzustellen, sondern die Eindrücke, [118] welche dieselben auf sein Gemüth ausüben. Er stellt mithin nicht die Welt, sondern seine Person, sich als Subjekt, in den Vordergrund. Die eigentliche Blütheperiode der Lyrik konnte daher erst in der Neuzeit stattfinden, da erst in ihr die volle Entfaltung der Persönlichkeit zu ihrem Rechte kam.

Natürlich muß die sich in den Vordergrund stellende Persönlichkeit des Dichters so beschaffen sein, daß wir uns wirklich, für sie und ihre Gemüthswelt interessiren können. Wenn ein Flachkopf uns seine an sich noch so löblichen Empfindungen zu kosten gibt, so empfinden wir Langeweile, während wir gespannt lauschen, wenn ein Göthe uns den Eindruck des alltäglichsten Ereignisses oder Anblicks wiedergibt. So muß also ein bedeutender, wenigstens ein ganzer Mensch sein, der auf wirklich eigenthümliche Weise empfindet.

Genügt aber schon die bloße Eigenthümlichkeit der Empfindung? Offenbar nicht; sondern neben und trotz der Eigenthümlichkeit muß dieselbe doch eine gewisse Gemeingültigkeit haben, so daß wir, ohne unserer Natur Zwang anzuthun, ebenso mitempfinden können. Es muß also in der wahren Lyrik innerhalb der Subjektivität doch auch in gewissem Sinne Objektivität herrschen; nicht bloß in diesem einen Subjekte darf die Empfindung existiren, sondern sie muß eine solche sein, die wenigstens der Fähigkeit nach, auch in andern Menschen vorhanden ist. Nur wenn diese Verwandtschaft herrscht zwischen der subjektiven Empfindung des Dichters und dem objektiven Empfindungsleben der Menschheit, kann ein lyrisches Gedicht auf unser Gemüth, auf unsere empfindende Phantasie wirken.

 

 

§ 37. Bau und Stil des lyrischen Gedichts.

 

Wie die Empfindung im Innern des Menschen eigentlich nur ein Moment ist, auf dessen Höhe er sich nicht lange halten kann, so liegt in der Natur des lyrischen Gedichtes die Neigung zur Kürze. Doch muß in demselben ein Organismus herrschen, der uns den Verlauf der Empfindung erkennen läßt. Die Entwicklung derselben im lyrischen Gedichte findet theils in aufsteigender Linie statt, so daß der Schluß die höchste Erregung ausdrückt, oder vielmehr errathen läßt, [119] und dies ist offenbar der natürlichste und angemessenste Gang des lyrischen Gefühlsausdrucks (vgl. z. B. Schäfers Klagelied von Göthe); theils findet sich eine zur Beruhigung herabsinkende Empfindung (vgl. Göthe's "rastlose Liebe"), theils endlich eine das ganze Gedicht in gleichmäßiger Weise durchschwingende Stimmung (z. B. Göthe's Lied an den Mond) zur Darstellung gebracht. Dabei ist aber die Entwickelung nicht eine stetig fortlaufende, wie in der epischen Poesie; vielmehr ist die Lyrik, entsprechend der Natur der Empfindung, darauf hingewiesen, "nicht in gemessener Ruhe zu entwickeln, sondern rasch, abgebrochen fortzuschreiten. Die Composition verknüpft die Vorstellungen nicht nach ihrer objektiven Ordnung, sondern liebt Absprünge, die ihren Zusammenhang in der subjektiven Einheit des Gefühls haben" (Vischer). Diese sogenannte "lyrische Unordnung" hat sich besonders in der odenartigen Dichtung festgesetzt.

Da, wie wir sahen, die Empfindung sich nicht unmittelbar in Worten äußern kann, so kann dies nur dadurch geschehen, daß sie sich in Anschauungen oder in Gedanken (die letztlich wieder auf Anschauung ruhen) hineinlegt. Auf diese Weise kommt auch in der empfindenden Poesie das Anschauungselement zur Geltung, hier aber nur als Mittel zum Zweck. Ganz anschauungslose lyrische Gedichte würden entweder zerfließende Empfindungsäußerungen, oder abstrakte Gedanken, jedenfalls also keine echte Poesie sein.

Die Anschauung nun kann auf zweierlei Weise gegeben werden: entweder so, daß durch das Gedicht selbst die bestimmte äußere Situation klar wird, während welcher es entstanden ist, oder daß die Empfindungen sich gewisser Anschauungen als Bilder der Innerlichkeit bedienen, ja in manchen lyrischen Gedichten werden sogar nur Anschauungen, z. B. Naturbilder gegeben, aber so ganz durchzittert von Empfindung, daß sie zu ausreichenden Symbolen derselben werden, vgl. z. B. Göthe's "Meeresstille". Die Empfindung selbst wird in der echten Lyrik entweder nur ahnen gelassen, oder nur kurz ausgesprochen. Ein ausführliches Verweilen bei derselben, ein eigentliches Besprechen, schwächt den Eindruck; denn die wahre Empfindung macht von sich selbst nicht viel Worte. [120] Das Gedankenelement (von Vischer das "gnomische" genannt) wird in dieser Poesie der Innerlichkeit mehr und berechtigter hervortreten, als in der epischen Poesie; denn in der Innenwelt lagern Gedanken und Empfindungen nachbarlich und oft untrennbar nebeneinander. Nur dürfen sie nicht abstrakt als Gedanken ausgesprochen werden, sondern umgesetzt in Anschauungen oder von Empfindung durchwärmt.

Das lyrische Bild wird sich vom epischen Gleichniß dadurch unterscheiden, daß es nicht, wie jenes, vorzugsweise ein Sinnliches durch ein anderes Sinnliches der Anschauung deutlicher und reicher wiederzugeben sucht; sondern es macht gewöhnlich die an sich übersinnliche Empfindung durch ein sinnliches Bild faßbar. Da sich jene hinter dieses verbirgt, so wird in der Lyrik weniger das ausführliche Gleichniß, als vielmehr die unmittelbar an die Stelle der Empfindung tretende Metapher überwiegen.

 

 

§ 38. Eintheilung der Lyrik.

 

Für die Eintheilung der Lyrik nehmen wir das Vorherrschen des einen oder des andern ihrer Elemente als Princip an. Diese Elemente waren Empfindung, Anschauung und Gedanke. Bleibt die persönliche Empfindung bei sich selbst, so entsteht eine Lyrik der Empfindung, das Lied. Wird die Empfindung durch Anschauung eines Objekts erregt und über den Kreis der individuellen Gefühle hinaus zu jenem hingerissen, so erhalten wir eine Lyrik der Anschauung (Ode, Elegie); wird ein Gedankeninhalt vom Gefühl ergriffen, so nennen wir eine solche poetische Verklärung des Gedankens Gedankenlyrik (subjektive Gedankenpoesie). *

 

 

§ 39. Die Lyrik der Empfindung.

 

[121] Am reinsten tritt der Gattungscharakter der Lyrik offenbar da hervor, wo die aus dem Gemüth quellende Empfindung sich selbst unmittelbar darstellt uud einen rein persönlichen Charakter trägt. Dies geschieht im Liede.

Das Lied geht von der Tiefe der Innerlichkeit aus und betrachtet die Dinge nur als Symbole der eigenen, frohen oder wehmüthigen Stimmung. Das Subjekt bleibt dabei ganz in sich selbst, ist sich selbst Gegenstand der Darstellung. Alles, was wir oben von der Lyrik im Allgemeinen gesagt haben, gilt vorzugsweise von dieser ihrer Hauptform.

Als Darstellung des reinen Empfindungslebens verbindet sich das Lied mit der Musik (vgl. § 10 und § 35), muß daher sangbar sein. Aber auch ohne daß diese in hörbarer Weise mitklingt, muß der ganze Charakter des Gedichtes ein musikalischer, stimmungsvoller sein, bis hinein in den Wortklang und die Melodie des Reimes, der für das Lied nothwendig ist.

Dem Stoffe nach lassen sich die Lieder eintheilen in Liebeslieder, Trinklieder, gesellige Lieder, Naturlieder u. s. w. Die Heiterkeit kann sich im Liede bis zur Komik steigern, so daß man auch zwischen ernsten und komischen Liedern unterscheiden kann. Endlich findet sich noch die Theilung in geistliche (religiöse) und weltliche Lieder.

Eine hervorragende Stellung in der Liederpoesie nimmt das Volkslied ein. Man versteht darunter eigentlich aus dem Volk hervorgegangene Lieder, d. h. solche, deren Verfasser selbst schlichte Leute mit ganz volksthümlicher Individualität waren und meist unbekannt geblieben sind. Dann aber überträgt man auch den Namen Volkslied im uneigentlichen Sinne auf solche Lieder, welche, von kunstmäßigen, der geistig kultivirten Welt angehörigen Dichtern ausgegangen, so in's Volk gedrungen sind, daß sie als Eigenthum aller Klassen desselben betrachtet werden können.

Das Volkslied hat vor der Kunstlyrik meist jene edle Einfalt und [122] frische Natürlichkeit voraus, die dem mitten in der Kultur und Geistesströmung stehenden Mensdyen so leicht verloren geht, und deren Duft und Zauber durch keine Kunst sich ersetzen lassen. Glänzendere Bilder, größere Redegewalt, glattere Form mag eine kunstmäßig durchgebildete Lyrik aufzuweisen haben, wenn aber die Unmittelbarkeit und Naturkraft der Empfindung fehlt, vielleicht gar durch geschraubte Reflexion ersetzt werden soll, so steht das einfachste Volkslied höher.

Die höchste Stufe freilich nimmt jene Lyrik ein, die mit der reinen Empfindung und Einfachheit des Volksliedes die Vortheile der Kunstpoesie verbindet. Die neuere Zeit ist reich an dergleichen guten Liedern. Vor allen ist Göthe ein Meister der Lyrik. Er wußte aber auch von dem lange verachteten Volksliede zu lernen, während sein großer Jugendfreund Herder durch seine "Stimmen der Völker" den Blick aller Gebildeten auf diese Quelle der echten Empfindung leitete, * aus der seitdem alle wahren Dichter getrunken haben. So wurde das Volkslied gleichsam der Jungbrunnen der deutschen Lyrik, ja neben dem Studium des klassisden Alterthums ein Lebenssaft für unsere moderne Poesie überhaupt.

Als die erhabenste Form des Volksliedes kann man das protestantische Kirchenlied betrachten. Es unterscheidet sich dadurch von den Hymnen der katholisden Kirche, daß es, der Natur des Protestantismus gemäß, die subjektive Empfindung des Göttlichen, namentlich der Liebe zum Erlöser, zum vollen Ausdrucke bringt, während jene einen weit objektiveren Charakter tragen und mehr in einem feierlichen Ansingen der in dogmatischer Erhabenheit thronenden Mysterien, als in einem persönlich freien Verkehr mit dem lebendigen Gott bestehen. Größere Subjektivität herrschte in den Marienliedern des Mittelalters, die wir fast als Vorläufer der freieren Empfindungslyrik des Protestantismus betrachten können.

 

 

§ 40. Lyrik der Anschauung.

 

[123] Wenn das Lied von der Tiefe der Innerlichkeit ausgeht und daher wesentlich persönlicher Natur ist, so kann die Empfindung aber auch aus dem Kreise der Persönlichkeit heraustreten und sich von der objektiven Welt anregen und sogar zu erhöhter Lebendigkeit begeistern lassen. Im Liede ging die Empfindung von sich selbst aus und blieb bei sich selbst. Jetzt wird sie durch Anschauung der außer ihr wirkenden Ideen des Schönen, Guten, Wahren hervorgerufen und schwingt sich entweder zu denselben empor, oder verweilt sinnend bei den Erscheinungen derselben. Im ersten Fall wird sie zur Ode, im zweiten zur Elegie.

 

A. Die Obe.

a. Die Ode (wörtlich = Gesang) ist eine Schöpfung der Griechen (Alcäus, Sappho, Pindar) und wurde bei den Römern vorzüglich von Horaz ausgebildet. Man hat sich dadurch verleiten lassen, die Eigenthümlichkeit der Ode in der antiken Strophenform zu suchen. Allerdings sind auch die meisten deutschen Obendichter (vor allen Dingen die Meister derselben, Klopstock und Platen) auch in der Form den antiken Vorbildern treu geblieben; aber die Odenpoesie kann sich ebensowohl in modern gebauten Reimstrophen bewegen, wenn nur der Charakter derselben oderartig ist, während umgekehrt sich auch unter den antiken Oden viele finden, die eigentlich nur einfache Lieder sind. Denn der Charakter der Ode besteht darin, daß der Dichter, von einer großartigen Idee und deren Erscheinung begeistert, seinen Gegenstand mit dem Feuer einer erhabenen Empfindung beleuchtet und als ein absolut Großes darstellt, wobei die eigene Subjektivität in der Hintergrund tritt, wenigstens sich nicht als solche betont. Diese lyrische Erhabenheit der Ode prägt sich auch in der Sprache aus; die Einfachheit des Liedes genügt ihrem bedeutenden Inhalte nicht mehr, sondern in kühnem Schwunge erhebt sich der Dichter über die gewöhnliche Ausdrucksweise und wendet alle Mittel einer glänzenden poetischen Rhetorik an, um seinen Gegenstand gleichsam in Brillantfeuer strahlen zu lassen. Hier ist der Tummelplatz der kühnen Metaphern, der [124] energischen Ausrufe, der aufblitzenden Antithesen, der überraschenden Wortbildungen, der vollsten und wogendsten Rhythmen. Durch alles dies charakterisirt sich die Ode als die Lyrik des begeisterten Schauens.

b. Nimmt die Begeisterung einen so ungestümen Charakter an, daß die Phantasie über das Geistesvermögen völlig zu herrschen und den Dichter wie im Rausche willenlos mit sich fortzureißen scheint, so entsteht die Dithyrambe. In Griechenland nannte man ehemals so die dem Weingott Bacchus zu Ehren gesungenen phantastisch aufgeregten Liedern. Diesem Grundcharakter einer göttlichen Trunkenheit, eines poetischen Wahnsinns entspricht am besten der ungebundene Strom der freien Rhythmen (vgl. Wanderers Sturmlied von Göthe).

c. Der Hymnus (Lobgesang) feiert in tiefernster Begeisterung die Erhabenheit des Göttlichen. Der eigentliche Hymnus ist sangbar und die älteste Form des gottesdienstlichen Liedes. Die herrlichsten Hymnen finden sich in den Psalmen, denen sich die altlateinischen Hymnen der christlichen Kirche (wie z  B. das Te deum, das Stabat mater) würdig anschließen. Die antik heidnischen Hymnen besangen in fast epischer Weise die Thaten der Götter, wie aus den sogenannten homerischen Hymnen ersichtlich ist.

 

B. Die Elegie.

Bald nach der Blüthe der epischen Poesie entwickelte sich bei den Griechen, als Anfang der Lyrik, die elegische Poesie. * Sie hatte aber ursprünglich nichts weniger als das, was wir jetzt einen elegischen Charakter zu nennen pflegen. Vielmehr war der Inhalt dieser ältesten Elegien theils Aufmunterung zur Tapferkeit, theils eine Betrachtung politischer Ereignisse. Diese Anfänge subjektiver Weltanschauung fanden eine geeignete Form im elegischen Distichon, welches auch bei der weiteren Ausbildung der Elegie im Alterthum, wie sie besonders von den Römern erreicht wurde (Catull, Tibull, Properz), beibehalten ward.

Als Charakter der ausgebildeten elegischen Dichtung tritt zunächst das empfindungsvoll sinnende Verweilen bei allem Schönen und [125] Großen hervor. So ist denn die Elegie eine Poesie der gefühlvoll weilenden Erinnerung, und hieraus ergibt sich dann häufig jener wehmüthige Ton derselben, den man gemeiniglich als charakteristisches Kennzeiden der Elegie betrachtet. Es gibt aber auch lebensfrohe Elegien, in denen z. B. das Glück der Liebe gefeiert wird, wie von Göthe in seinen römischen Elegien. Doch liegt selbst in der Schilderung vergangenen Glücks ein unausgesprochener Ton der Wehmuth über die Flüchtigkeit desselben. Auch an eine große historische Vergangenheit lehnt sich die Elegie gern an, vgl. z. B. Schiller's "Götter Griechenlands" und "Pompeji und Herculanum" Desselben Dichters "Spaziergang" richtet den sinnenden Blick, von den umgebenden Landschaftsbildern ausgehend, auf die Entwickelung des Menschengeschlechts in Kultur und Wissenschaft. Vischer theilt die elegische Poesie in eine mehr objektiv epische und eine mehr subjektiv lyrische Form; die Göthe'schen Elegien stehen meist auf dieser, die Schiller'schen auf jener Seite.

Als Form dieser Dichtungsart hat sich auch in der deutschen Litteratur das Distichon eingebürgert; doch sind auch trochäische Reimstrophen mit Glück dazu angewandt worden, z. B. von Hölty, Tiedge, Matthisson und W. v. Humboldt (in der Elegie "Rom").

 

 

§ 41. Gedankenlyrik.

 

A. Die schöne Gedankenpoesie.

Gegenstand derselben ist der schöne Gedanke. "Dies heißt nicht nur ein Gedanke von reinem, edlem Gehalt, sondern ein solcher, der im idealen Gefühls-Element empfangen und geeignet ist, von ihm umfangen zu bleiben" (Vischer). Dieser Gedankeninhalt aber wird nicht, wie in der objektiven Gedankenpoesie, als etwas von der Persönlichkeit getrennt Existirendes und in epischer Weise gleichsam Abgeschildertes dargestellt, sondern die Gedankenlyrik gibt sich als subjektive Empfindung. "Die Ideen werden hier nicht um ihrer selbst willen, wie im Epos, sondern so ausgesprochen, wie sie aus einer individuellen Gemüthsanlage geboren werden, wie sie eine besondere Gemüthsstimmung erregen" (Carriere). So entsteht eine subjektive Gedanken[126]poesie, die natürlich nie in dürre, mit Floskeln umhängte Reflexion ausarten darf.

Dieses Gebiet nun ist es, auf welchem die Lyrik Schiller's den ersten Rang einnimmt, vgl. z. B. die Resignation, das Ideal und das Leben, die Macht des Gesanges. Auch die Glocke gehört hierher, insofern sie in einer Reihe von Lebensbildern den idealen Gehalt des Lebens selbst darstellt. Andere Beispiele sind Hölderlin's "Schicksal", Göthe's "Grenzen der Menschheit", "Schatzgräber" u. a. m. Für den empfindungsvollen, lyrisch ausgeführten Ausdruck eines einzelnen schönen Gedankens bietet das Sonett eine überaus passende Form, vgl. Verslehre S. 86 fg.

Als besondere Art der schönen Gedankenpoesie läßt sich die mythologische und historische Lyrik betrachten. Sie lehnt sich an einen Mythus oder eine hervorragende historische Erscheinung an, deren ideale Bedeutung sie ausspricht oder deutlich hindurchscheinen läßt. So Schiller in der Kassandra, im Eleusischen Fest, in der Klage der Ceres, in der unüberwindlichen Flotte, Göthe im Prometheus und Ganymed, neuerdings H. Lingg in einer Reihe historisch-lyrischer Gedichte, z. B. im römischen Triumphgesang, im Normannenzug, im Lied der Städte.

 

B. Das Epigramm.

Das Epigramm ist die kürzeste Form der lyrischen Reflexionspoesie. Zur epischen * ist es deshalb nicht zu ziehen, weil der Kern desselben gerade in der eigenthümlichen, witzartigen Zuspitzung eines Gedankens liegt, so daß also die subjektive Fassung das Hauptmerkmal ist.

Als Poesie des Witzes ist das Epigramm keine eigentliche Poesie mehr; denn indem der Witz Auseinanderliegendes in überraschende Beziehung zu einander setzt, ist er wesentlich Verstandesthätigkeit. So liegt denn das Epigramm auf der äußersten Grenze der Lyrik. "Es sind die zerstreuten, erkaltenden Funken der Flamme, welche die volle Lyrik in gedrängter Wärme zusammenhält" (Vischer).

Das Epigramm (= Aufschrift) war ursprünglich eine Denkmals-[127]Inschrift, die in kürzester Form die Bedeutung desselben angab. So ist auch jetzt noch sein Hauptzweck der, einen Gegenstand in schlagender Kürze zu deuten. Diese Deutung geschieht aber in subjektiver Weise. In der Regel wird zuerst der Gegenstand genannt und dadurch eine Spannung erregt, welche dann im Folgenden durch eine Pointe befriedigt wird. Richtet sich diese epigrammatische "Spitze" gegen eine Persönlichkeit, so wird der Charakter des Epigrammes ein satirischer.

Die geeignetste Form für das Epigramm ist das antike Distichon, aber auch Reimpaare (besonders Alexandriner) sind für den epigrammatischen Ausdruck, vorzüglich für das satirische Epigramm, sehr brauchbar, z. B.

Nase, dir steht deine Nase statt der Sonnenuhr bereit:
Wenn der Schatten weist gerade auf das Maul, ist Essenszeit.
                                                          F. v. Logau.

Außer den satirischen Epigrammen kann man gnomische Epigramme unterscheiden. Der Unterschied des letzteren vom bloßen Sinnspruch liegt in der überraschenden Wendung, die das Epigramm dem Gedanken zu geben weiß, häufig durch Anwendung von Antithesen und Wortspielen. Ein Wortspiel z. B. ist folgendes gnomische Epigramm Logau's:

Man kann im Ruhn
Doch etwas thun,
Man kann im Thun
Doch etwas ruhn.

In Antithesen bewegt sich das folgende Schiller'sche Epigramm:

Theuer ist mir der Freund, doch auch den Feind kann ich nützen;
Zeigt mir der Freund, was ich kann, lehrt mich der Feind, was ich soll.

 

 

[Die Anmerkungen stehen als Fußnoten auf den in eckigen Klammern bezeichneten Seiten]

[117] * "Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr!" (Schiller).   zurück

[120] * Wir folgen der Eintheilung Carriere's. Vischer theilt das lyrische Gebiet in eine Lyrik des Aufschwungs (Ode), eine reine lyrische Mitte (Liederartiges) und eine Lyrik der Betrachtung (Elegie; schöne Gedankenpoesie). Gottschall: Lyrik der Empfindung, der Begeisterung, der Reflexion   zurück

[122] * Nächstdem wirkten für Anerkennung des Volksliedes die Romantiker Achim v. Arnim und Clemens Brentano durch Herausgabe von "des Knaben Wunderhorn." Jetzt gibt es kaum mehr ein Volkslied, das nicht gedruckt wäre.   zurück

[124] * Als Erfinder gilt Kallinus aus Ephesus, um 750 v. Chr.   zurück

[126] * Wie u. a. Carriere und Gottschall wollen.   zurück

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

H. Koepert: Lehrbuch der Poetik.
Für Unterricht und Selbststudium.
Leipzig: Arnoldi 1860, S. 117-127.

PURL: https://hdl.handle.net/2027/nyp.33433082518618
URL: https://books.google.bj/books?id=yYkCAAAAYAAJ

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

 

 

Literatur

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