Wilhelm Ahlwardt

 

 

Ueber Eintheilung der Arabischen Poesie.

 

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Wer an den Dichterwerken des classischen Alterthums aufgewachsen und mit der Poesie der neueren Zeiten bekannt ist, wird sich an eine genaue Unterscheidung der Dichtgattungen so sehr gewöhnt haben, dass er dieselbe in allen entwickelten Litteraturen wiederzufinden erwartet. Nicht ohne Grund also wird er sich darüber wundern, dass der reichen Arabischen Poesie diese Eintheilung in Gattungen fremd sei; er wird fragen, ob dieselben überhaupt noch ungeschieden in einander liegen, oder ob sie nicht doch, wenn auch unvollkommen, wenigstens zum Theil entwickelt seien, und er wird sich nach einer Erklärung dieser auffälligen Erscheinung um so mehr umsehen, als er bei anderen orientalischen Völkern, wie bei den Indern, alle Dichtgattungen, oder wie bei den Persern, wenigstens mehrere derselben ausgebildet findet.

Diese Erscheinung zu erklären, darf man jedoch nicht etwa meinen, dass das Arabische Volk sich noch nicht bis zu der Kulturstufe erhoben habe, auf der die Poesie in jenen drei Richtungen angebaut zu werden pflegt, und dass es mit der Zeit – wenn die staatlichen Verhältnisse dazu mitgewirkt hätten – gleichfalls dahin gelangt sein würde. Es ist ein sehr missliches Ding, die Entstehung von Geisteswerken zeitlich begrenzen zu wollen, vielmehr wird ein Volk, das in die Geschichte getreten ist und ein reiches und dazu langes Leben des Geistes und der That zurücklegt, alle schöpferischen Triebe, die ihm innewohnen, entfalten und eigenthümlich gestalten. Stellt sich denn, mit den Werken anderer Völker verglichen, in einer oder der anderen Beziehung ein Mangel heraus, wie andererseits auch vielleicht ein Vorzug, so bleibt uns kein anderer Erklärungsgrund dieser Thatsache, als der, dass es die besondere Geistesrichtung des Volkes sei, die dasselbe nach dieser Seite hin und von jener Seite weg geführt habe. Wer die Arabische Litteratur kennt, wird gewiss einräumen, dass die Araber zum mindesten sechs Jahrhunderte hindurch wie auf anderen Gebieten derselben, so vornehmlich auf dem der Poesie sich vielfach bewegt und glänzende Erfolge erzielt haben, und dass es nicht Schuld der Zeitkürze sei, dass sie manche Litteraturzweige verhältnissmässig schwach oder ungenügend, andere gar nicht bearbeitet haben. Es kann [25] eben nur in dem Wesen dieses Volkes selbst, in seiner Lebensauffassung und Denkweise und in der Stellung, die die Einzelnen im geselligen oder staatlichen Leben zu einander einnahmen, liegen, dass es für die bestimmte Ausprägung dieser oder jener Gattung nicht empfänglich war.

Für den hauptsächlichsten Grund, weshalb die Arabische Poesie sich nicht allseitig zu der epischen, lyrischen und dramatischen Gattung entwickelt habe, halte ich die in der Geschichte, wie in den Geisteswerken der Araber überall ausgeprägte Richtung derselben auf ihr eigenes Gemüthsleben und die ihnen mangelnde Fähigkeit, mit Aufgeben der Individualität die Verhältnisse und Personen gegenständlich aufzufassen und darzustellen. In schroffkantige Persönlichkeit abgegrenzt, lebt der Araber sein eigenstes Dasein; und im Handeln wie im Denken von sich ausgehend und auf sich zurückkommend, genügt er sich in der Fülle der Gegenwart. Die Vergangenheit kümmert ihn nur als geschehene That, nicht aber in dem Processe ihres Vorganges oder in dem Wirken der in der Zeit liegenden verschiedenen Ursachen zu einem Resultate: sie ist ihm vorhanden, aber sie ist nicht für ihn geworden. Und eben so wenig denkt er über die Ursachen nach, die ihn selbst zu dem, der er nun geworden ist, gemacht haben. Eine Selbstschau, insofern wir darunter ein Erwägen aller Momente, die wesentlich zur Entwickelung des Menschen beigetragen haben und ein Zersetzen der Geistesthätigkeit begreifen, kennt er nicht. Er vermag nicht, von einem höheren Standpunkte aus ein ganzes Gebiet zu umfassen und mit philosophischem Geiste zu durchdringen: bald an dieser, bald an jener Seite eines Gegenstandes haftend, betrachtet und begrübelt er dieselbe zwar mit seinem scharfen Verstande, aber die Beziehung des Theiles zum Ganzen zu würdigen und in der Mannichfaltigkeit die Einheit und den leitenden Gedanken zu erkennen, ist er ausser Stande. Die Welt der Erscheinungen tritt an ihn heran: aber er begreift sie nur in der Vereinzelung ihrer Vorgänge, in dem Nacheinander und nicht in ihrem Beisammensein und in ihrer gegenseitigen Durchdringung. Er verkehrt mit Anderen; aber die Wesenheit derselben ist es nicht, die er erfasst; es sind einzelne Züge, die ihm auffallen, besondere Seiten, die ihn anziehen oder abstossen, aber er kann sich keine Rechenschaft darüber geben, weil er für Auffassung des Ganzen keinen Sinn hat. Dazu kommt, dass ihn von einer Neigung, sich um innere oder äussere Angelegenheiten Anderer zu kümmern oder sich darin zu mischen, die in so mancher Beziehung richtige Ansicht abhält, dass der Mensch sich selbst ein beständiges Räthsel sei, zu dessen Lösung nicht einmal die Anspannung aller seiner Kräfte hinreiche, und dass er also um so weniger Anlass oder Grund habe, sich auch noch in fremde Denk- und Handlungsweise zu versetzen. Davon, dass er sich der inneren Gründe einer Sache klar werde und deren Zusammenhange oder Triebfedern nachspüre, hält ihn ferner auch seine religiöse Ueberzeugung ab. Denn das, was geschieht, ist höheres Verhängniss: es zu ergründen habe der Mensch weder Kraft noch Beruf; es sei seine Pflicht, sich demselben zu fügen und stehe ihm nicht zu, darüber zu murren. Also das Wie und Warum der Begebenheit rührt ihn nicht; er nimmt die un[26]vermeidliche Thatsache hin, wie sie ihn trifft, und sein Trost ist, Gott thut was er will.

Geht nun dem Araber, wie wir vorher sagten, die Fähigkeit und die Lust ab, sich in das Seelenleben Anderer zu vertiefen, so müssen wir andererseits auch zugeben, dass ihm einigermaassen die Gelegenheit fehlt, die Beweglichkeit und Mannichfaltigkeit der Charactere tiefer kennen zu lernen. Diese wird nämlich besonders immer da mangeln, wo dem Menschen eine freie Entwickelung seines Geistes, gleichviel aus welchen Gründen, versagt ist; und wir dürfen uns nicht wundern, wenn es, in den Zeiten der Chalifenherrschaft, der in vielfacher Nüancirung ausgeprägten Individualitäten wenige gibt. Zwar die alten Zeiten, mit der freien Entwickelung männlicher und weiblicher Eigenthümlichkeit, hätten des Anlasses genug geben können, ganze Menschen kennen zu lernen: allein hier ist der Zug des Arabischen Geistes, sich in seiner eigenen Geistessphäre zu beschränken und um Andere nur, in soweit es persönliche Verhältnisse forderten, sich zu bekümmern, noch so sehr vorwiegend, dass auch damals die gegenständliche Auffassung der Charactere mangelt.

Wenn überhaupt die Geistesrichtung der Araber nicht auf Erfassen eines Ganzen geht, sondern darauf, an Einzelnheiten sich zu halten, unbekümmert um den höheren Zusammenhang, so werden sie vielleicht zwar bei Behandlung eines Gegenstandes, in Auffindung besonderer und eigenthümlicher Seiten desselben bewunderungswürdig sein; aber sie werden dieselben als organische Theile in ein Ganzes zu verweben nicht vermögen. Denn es gehört dazu ein Ueberblicken der Mittel, die Einem zu Gebote stehen; ein Abwägen des Wichtigen und Minderwichtigen; ein Sichrechenschaftgeben von Ursache und Wirkung; ein Durchdringen des Stoffes, dessen Theile man in gehörigem Zusammenhange (so dass einer mit dem andern und durch den andern wirke) an einander reihe. Kurz, es gehört ein künstlerischer Sinn dazu, der das Leben vergeistigend wiederschafft, weil er es in seinen Triebfedern und seinem in einander greifenden Räderwerke richtig erkannt hat. Dazu fehlt aber dem Araber die objective Anschauung; dazu fehlt ihm die subjective Vertiefung in den Kern des Stoffes. Dieser Mangel wird namentlich auch dann zu Tage treten, wenn der Araber an Behandlung geschichtlicher Vergangenheit geht. Die Idee, welche eine Zeit erfüllt und in ihr lebendige Gestalt annimmt, wird er nicht erfassen, sondern einzelne Vorgänge als blosse Vorfälle, ohne Rückbeziehung und Weiterwirkung, darstellen. Personen, als Träger ihrer Zeit, in denen die damals thätigen Kräfte und wirkenden Ideen ihren Ausdruck gewinnen, kennt er nicht, und kann daher an künstlerische Bearbeitung geschichtlicher Stoffe nicht einmal denken.

Ist nun die Richtung auf eigene Seelenzustände dem Arabischen Geiste so vorwiegend eingeprägt, dann ergibt sich leicht, dass dieselbe, wie in andern Zweigen der Litteratur, so auch besonders in der Poesie dieses Volkes vorherrsche. Wir werden also von vornherein erwarten dürfen, dass namentlich diejenige Gattung, die auf Empfindung und Gefühl beruht, bei demselben angebaut sei, dass aber diejenigen, bei denen es [27] auf objective Auffassung und Darstellung ankommt, ausserhalb des Kreises seiner schöpferischen Thätigkeit liegen werden.

Wenn wir also zunächst von einer genauen Unterscheidung und selbständigen Ausprägung der Dichtgattungen sprechen, werden wir sagen müssen, es werde die lyrische Seite der Poesie bei den Arabern vorwiegend ausgebildet sein, die dramatische und epische dagegen so gut wie ganz mangeln. Diese beiden Gattungen beruhen nämlich im Ganzen auf der Vergegenständlichung von Personen und Verhältnissen; die Epik hat es mit Begebenheiten der Vergangenheit zu thun, die sie, für sich stehend und ohne eigentlichen Bezug auf die Gegenwart, in ihrem eigenen Verlaufe darstellt; die Dramatik rückt die Vergangenheit in die Gegenwart, und indem sie Personen als deren Träger handelnd hinstellt, lässt sie sich dieselbe vor unsern Augen in verschiedenen Phasen entwickeln.

Betrachten wir nun diese Gattungen im Einzelnen, so fehlen der Entwicklung der Epik bei den Arabern alle Bedingungen. Nicht bloss viel zu innerlich, um einen Stoff der Vergangenheit an und für sich und losgetrennt von der Gegenwart zu behandeln; nicht bloss viel zu wenig gegenständlich, um ein Ganzes nach seinen inneren Bezügen zu erfassen, findet der Arabische Dichter auch in der That nicht einmal nationale Stoffe und eine grosse Vergangenheit vor. Bei der unendlichen Zersplitterung, in der die Araber von jeher getheilt waren, konnte es keine einheitliche Geschichte, keinen nationalen Stoff gehen. Da sich nun das Epos nur in früher Zeit bilden kann, wenn die Sage noch von Stamm zu Stamm wandert, und gleichsam die Gesammtheit des Volkes, von ruhmreichen Thaten der Vergangenheit erfüllt, an deren Reproduction arbeitet, so hatte dasselbe bei den Arabern keinen Mittelpunct, an den es sich leh nen und um den es seine Kreise schlagen konnte. Zwar die einzelnen Stämme hatten ihre Heroen, rühmten sich ihrer hohen Thaten; und so hätte zwar späterhin ein Kunstepos oder Volkslieder auf sie, in der Vereinzelung, entstehen können, nimmermehr aber ein Epos. Aber auch nicht einmal für solche Volkslieder war der Arabische Geist geeignet: sie umfassen doch immer, wenn auch in kleinerem Rahmen, ein Stück Vergangenheit, und der Araber ist nun einmal so sehr Kind der Gegenwart, dass seine Poesie sich an ganz persönlichen Anlässen des Augenblickes erzeugt, und so an einzelnen Vorkommenheiten eigenen Erlebnisses erschöpft.

Für die Dramatik aber geht dem Araber vollends aller Sinn ab. Die Vergangenheit ist für ihn da, er kennt die einzelnen Begebenheiten derselben, aber er begreift ihren Zusammenhang nicht und vermag daher nicht, sie in lebensfrischer Gestalt und in ihren Wechseleinflüssen darzustellen. Noch weniger aber ist er im Stande, lebenswahre Persönlichkeiten zu schaffen und in Handlung vorzuführen. Es liegt dies nicht in einem Mangel an Einbildungskraft, sondern an der ihm fehlenden Einsicht in das Geistesleben des Menschen. Er kann sich nicht losmachen von den Zügen, wie sie die Geschichte ihm gibt: daran klebend, kann er zwar Personen der Vergangenheit beschreiben; aber nur genau nach der Ueberlieferung, Wort für Wort, weil er sich nicht auf einen Standpunkt erheben kann, von dem aus er dieselben idealisire. Wollte er z. B. einen Helden eine Rede halten lassen, er würde ihm nicht seinem Character gemässe und seiner ganzen [28] Lage entsprechende Worte in den Mund legen, wie er sie hätte reden können; er würde vielmehr ängstlich forschen, wie er, nach der Geschichte, geredet habe. Dem Arabischen Dichter geht ferner der künstlerische Ueberblick über seinen Stoff ab; einen Plan zu fassen, in welchem alle einzelnen Mittel organisch in einander greifen und einander bedingen, in welchem Verwicklungen sich anspinnen und naturgemäss lösen, liegt ausser seiner Sphäre: und das Drama mehr noch, als das Epos, verlangt diese künstlerische Berechnung. – Ausserdem kann sich überhaupt das Drama nur dann entwickeln, wenn das Leben in gemächlicherem Flusse dahingleitet, und ruhigere Zeiten eine Sammlung des Geistes und ein auf die Vergangenheit gerichtetes Nachdenken gestatten. Erst dann wird die lebendige Reproduction der früheren grossen Zeit, eben in den bedeutenden Lebensmomenten hervorragender Personen, für die Gegenwart anziehend sein. Diese Ruhe, Einheit und Stetigkeit des Daseins fehlt dem Leben der alten Araber, das in rascherem Sturme daherbraust; sie leben nur sich und den Ihrigen, und die Vorzeit kann keine objective Gestaltung gewinnen. Und ebenso wenig in späteren Zeiten, bei aller äussern Beständigkeit, die das Leben gewonnen hatte, aus den theils schon berührten Gründen der Richtung des Dichters auf die Innerlichkeit des Gemüthslebens, theils aber auch noch aus äusseren Gründen. Die Dramatik kann der Frauen nicht entrathen; sie ist eine Darstellung des Lebens nach idealem Zuschnitte, und darf sich daher nicht versagen, auch den Frauen ihre Rollen zuzutheilen. Nun aber stehen dieselben, bei den Arabern, zu den Männern in Beziehungen so dürftiger und einseitiger Art, dass sie aus dem öffentlichen Leben eigentlich verschwinden. So würde also die Arabische Dramatik eines wesentlichen Hebels des Interesses entbehren, oder ihn doch nur in beschränkter Weise anwenden können, mithin in eine Einseitigkeit gerathen, die dem Ganzen Eintrag thäte. Es kommt dazu, dass der Arabische Dichter das Schicklichkeitsgefühl verletzen würde, wollte er sich überhaupt mit Familienvorgängen in seinem Stücke beschäftigen oder dächte er daran, Frauen auf die Bühne zu bringen: sie gehören einmal nicht vor die Oeffentlichkeit.

Ferner gehört zu der Darstellung dramatischer Werke eine besondere Kunst des Schauspielers, sich in den Character der Person, die er vorstellen soll, bis ins Einzelne hineinzudenken und demgemäss zu handeln. Dieses thätliche Heraustreten aber aus dem Heiligthume seiner Selbstangehörigkeit ist dem Araber nicht möglich: er würde, selbst wenn er ernstes Bestreben dazu hätte und etwa den Hohn von Zuschauern nicht scheute, die diese Umwandlung nimmer gutheissen würden, dennoch nichts als Carricaturen liefern. Darum ermangelt der Araber auch der plastischen Kunst, weil dieselbe ein vollständiges Aufgehen in den Stoff, den man behandelt, verlangt. Ferner steht aber der Aufführung eines Dramas auch ein religiöses Vorurtheil entgegen, das den Schauspieler von vornherein abhalten musste, Personen der Vergangenheit darzustellen: nämlich der Gedanke, dieselben dadurch in ihrem Himmelsfrieden zu beunruhigen. Es würde ihnen wie ein Geistercitiren vorgekommen sein, ihre alten Helden auf der Bühne wandeln und handeln zu sehen: und wie die Malerei aus dem Grunde verboten war, um nicht die Seele einem Körper zu entwenden, würde die Dramatik aus ähnlichem Grunde noch weit eher unter[29]sagt sein, wenn überhaupt an solche Kunst gedacht worden wäre. – Es gehörten aber für die Aufführung selbst auch allerlei Kunstzurichtungen, die gleichfalls eine besondere Begabung voraussetzen und im Allgemeinen dem Araber fehlen. Endlich ist auch, damit das Drama sich bilden und gedeihen könne, ein Publicum nothwendig, das fähig ist, dergleichen Werke, die doch ein Allgemeinverständniss beanspruchen, aufzufassen und zu würdigen, und das nicht blos Interesse, sondern auch Kunstsinn mitbringe. Es gehört aber schon eine bedeutende geistige Reife des Volkes dazu, um an dramatischen Werken tiefern Gehaltes und stillerer Entwicklung Interesse zu finden und diese Reife geht dem Arabischen Publicum ab. Ja, wären es Schaustücke gewesen, mit fürstlichen Aufzügen, soldatischem Gepränge, Mord und Todtschlag: das hätte als Ganzes vielleicht gefallen: aber das ist keine Poesie.

Stellen sich der Entwicklung der epischen und dramatischen Poesie alle jene Hindernisse entgegen, so kann man doch nicht als neuen Grund gegen dieselben anführen, dass der Qorân diesen Gattungen in den Weg getreten sei. Er ist überhaupt nicht Freund, weder von Mährchen noch von Gedichten: und dennoch ist er der Entwicklung der Arten zu denen der Volksgeist drängte, nicht hinderlich gewesen, und auch die Epik und Dramatik würde sich Bahn gebrochen haben, wenn ein innerer Trieb dazu im Volksgeiste gelegen hätte. Auch darf Keiner meinen, die Sprache sei zu spröde und schroff und ungelenk gewesen. Sie wäre es weder zum Dialog noch zur epischen Darstellung, noch sogar zu Oden oder Dithyramben, und die Metrik eignet sich aufs Vollkommenste zu allen Dichtgattungen, sei es im Hexameter, sei es im Strophenbau.

Fehlt also zwar die epische und dramatische Gattung, in der sonst üblichen Gesondertheit, der Arabischen Poesie, und scheint es, als ob nur diejenige Richtung angebaut sei, in welcher das Gemüthsleben des Einzelnen völliges Genüge findet, nämlich die lyrische – so dürfen wir doch keineswegs ohne Weiteres einräumen, dass die Arabische Poesie nichts weiter als Lyrik sei. Denn allerdings zeigt sich, wenngleich verhältnissmässig selten, eine dramatische Richtung derselben; die Anreden an das Freundespaar, Einreden der Tadlerinnen, Vorwurf oder Aufmunterung an den Dichter und Antwort desselben u. dergl. nehmen bisweilen einen raschen Anlauf zu dramatischer Form, die jedoch alsbald in Lyrik umschlägt und den Dichter in das gewohnte Geleise seiner Anschauungen und Gefühle zurückführt. Und andererseits machen sich in der Arabischen Poesie fast überall zwei Bestrebungen geltend; nach der einen Seite hin Beschreibung der gegenständlichen Erscheinungen, nach der andern aber Darstellung der Empfindungen und beide Seiten verflechten sich oftmals so in einander, dass an Sonderung derselben nicht zu denken ist. Dies beschreibende Element, das wir nicht episch nennen können – weil es nicht der Vergangenheit, sondern der Gegenwart angehört, und weil es, ohne Bezug auf eine Volksthat, lediglich aus dem Verhältniss des Dichters zu den Gegenständen fliesst – noch auch als rein lyrisch bezeichnen dürfen – insofern es oft der durch die Dinge hervorgerufenen Reflexion entbehrend sich bloss mit diesen beschäftigt – dringt überall in das lyrische Gebiet ein, wenngleich dies bei weitem vorherrscht und der Arabi[30]schen Poesie eigentlicher Typus bleibt. Nehmen wir z. B. die Jagdbeschreibungen, oder auch die grösseren Gedichte oder Qassiden: sie sind keineswegs rein lyrische Schöpfungen, sondern tragen unverkennbar einen aus Beschreibung und Lyrik gemischten Character.

Fragen wir also, welche Gattungen es in der Arabischen Poesie gebe, so können wir nicht anders antworten, als dass sie der epischen und dramatischen Gattung entrathend, allerdings durchaus lyrisches Gepräge trage, dieses aber dennoch nicht immer in reiner Abgegrenztheit, sondern oftmals in einer Mischgattung aufweise. Da aber auch hier die lyrische Seite vorwiegt, können wir die Arabische Poesie vielleicht als beschreibende Lyrik oder überhaupt als Odik bezeichnen. Dieser Name dürfte um so eher passen, als die Arabischen Gedichte zum grossen Theil auf Gesang eingerichtet sind, wie die Wein- und Trinklieder, zum andern Theile aber mit einer Modulation der Stimme vorgetragen werden, die bei aller Einförmigkeit ein musikalisches Element hat.

Bevor ich nun von der Eintheilung der Arabischen Poesie in verschiedene Arten rede, werde ich in der Kürze besprechen, wie die Araber theils ihre Gedichtsammlungen geordnet, theils die Gedichte überhaupt in Klassen gebracht haben.

Die Arabischen Gedichtsammlungen einzelner Dichter (oder einzelner Stämme), Diwâne genannt, sind entweder nach den Endbuchstaben der Reime alphabetisch geordnet, oder nach gewissen zeitlichen Epochen oder auch nach den Stoffen, die sie behandeln, in gewissen Kapiteln zusammengestellt. Der erstere Fall ist am häufigsten, und einzelne Dichter, wie Elbohtori, Ibn elmo'tass, Elmotenebbi, bei denen es geschehen ist, dafür anzuführen genügt. Diese Eintheilung ist besonders für Auffindung irgend eines Verses des Dichters sehr bequem: man braucht nur den Reimbuchstaben in der Sammlung nachzuschlagen und das Metrum im Auge behalten, um das Gesuchte zu finden. – Die Zusammenstellung der Gedichte nach gewissen Lebensabschnitten hat ein biographisches Interesse, sie gewährt einen Einblick in die Entwicklung des Dichters, zumal da sie in der Regel mit dahin einschlagenden Bemerkungen von dem Herausgeber versehen zu werden pflegt, ein Vortheil, den die alphabetischen Sammlungen, die gewöhnlich keine weiteren Bemerkungen enthalten, als die, an wen das Gedicht gerichtet ist, oder seltener, über welchen Gegenstand es sich verbreitet, fast immer entbehren. Das Auffinden aber eines citirten Verses ist bei solcher Anordnung höchst umständlich. Uebrigens ist dieselbe viel weniger beliebt, als die erstere Art. Die Ausgabe des Elmotenebbi von Elwâhidi ist so eingerichtet, indem sie in Jugendgedichte, Seifijjât, Kâfûrijjât. Fâtiqijjât, 'Omeidijjât und 'Adhudijjât zerfällt. – Die dritte Eintheilung nach den behandelten Stoffen ist nicht immer gleichmässig, indem manchmal unter demselben Kapitel vereint ist, was bei Andern sich getrennt findet, manchmal auch ganze Kapitel bei dem Einen fehlen, weil er dahin gehörige Gedichte nicht gemacht, während er neue Kapitel dafür hat, die wieder Anderen abgehen. Auch die Aufeinanderfolge der einzelnen Kapitel ist oft verschieden. Ich werde nun von 2 Dichtern, Abunowâs und Ibn elmo'tass eine Uebersicht ihrer so eingetheilten Gedichte geben, indem ich erstens die Reihenfolge ihrer Kapitel hersetze, und zweitens, sie nach den Stoffen zusammenstelle.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Wilhelm Ahlwardt: Ueber Poesie und Poetik der Araber.
Gotha: Perthes 1856, S. 24-30.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

PURL: https://hdl.handle.net/2027/nyp.33433082502745
URL: https://archive.org/details/ueberpoesieundp01ahlwgoog
URL: https://books.google.com/books?id=9B5pAAAAcAAJ
URL: http://digitalisate.bsb-muenchen.de/bsb10218839

 

 

 

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