[anonym]

 

 

Die Natur als Dichterschule.

[Auszug]

 

Text
Editionsbericht
Literatur: anonym
Literatur: Deutsches Museum

 

Dies Alles ist Vorbereitung. Der auf solche Weise restituirte und angeregte Genius wird nun erst von der Natur in die Schule genommen. Nicht zur Nachahmung reizt sie ihn, in dem Sinne, daß er auf ihrem eigenen Gebiete es ihr gleichzuthun versuche: ein solches Bestreben wäre nicht nur vergebens, weil der Mensch, obschon er manchmal das Gras wachsen hört, keinen Grashalm produciren kann: sondern es widerspräche auch, wie schon angedeutet, gänzlich dem Wesen der Kunst, als welche überall nur ein Darstellen des eigenen Seins der Menschheit, nirgends aber das eines fremden im Kunstwerke bezweckt. So ist auch die Landschaftsmalerei keineswegs eine Nachahmung der natürlichen Landschaft, sondern stellt nur deren Wirkungen auf das menschliche Gemüth dar: weshalb denn auch Schleiermacher hier, wie so oft, den Nagel auf den Kopf getroffen, wenn er das Wesentliche dieser Kunst in dem sogenannten Ton, d. h. in dem Lichteffect findet: denn auf diesem beruht, wie wir eben gesehen, ganz wesentlich der dem Gemüthe unmittelbar zugängliche Charakter der landschaftlichen Natur. Zur Nachahmung aber ihrer vollendeten, allseitig klaren, deutlichen Formen des Seins und Werdens reizt sie ihn und leitet sie ihn an: sie lehrt ihn, wie die Propädeutik, so auch die Methodik und Hodegetik seiner Kunst. Mehr als diese Weg-Weisung vermag überhaupt keine Schule, am wenigsten eine hohe Schule wie die Natur. Denn die Aneignung und Bewältigung des Stoffs muß immer von dem rechtgeführten Schüler selbst ausgehen: die Kraft, welche von ihm ausgehen muß, kann nur geweckt und geleitet werden.

So lernt der Lyriker in der Natur die Hauptstücke seiner Kunst: den wahren und vollen Ausdruck Dessen, was in ihm lebt, die Darstellung seiner Gemüthswelt in ihrer Unmittelbarkeit, Naivetät, in ihrem organischen Zusammenhange mit der intellectuellen und ethischen Bildung seiner selbst und mit der Welt außer ihm. Wie die Natur in allen ihren Erscheinungen sich wahr, offenherzig und ganz ausspricht, überall unbefangen kundgibt, sozusagen was hinter ihnen steckt, in Allem einfach, mit der größten Oekonomie, harmonisch ihr Wesen dar[426]lebt, und wie jedes Besondere in ihr zur rechten Zeit, am rechten Orte hervortritt, dem Einklange des Ganzen nicht fremd, geschweige störend – so die echte Lyrik; fern von aller Heuchelei und Koketterie, wie von allem Lehrhaften, Sententiösen, Gemachten, läßt sie das tiefste Herz sich ausströmen in der Welle des reinen lebendigen Gefühls, die sich bettet in dem Felsengrunde der Gesinnung und verklärt wird in dem Lichte des Gedankens. Wem tritt hier nicht das Bild aus der Natur entgegen? – Aber freilich, die beiden diesem Bilde beigegebenen Requisite: ein großer Charakter und ein heller Kopf, dürfen nicht fehlen, sonst kommt es, wie zu keiner energischen poetischen Individualität überhaupt, so auch nicht zu der ebenso seltenen als kostbaren Lyrik des Genies. Deshalb sind die Liebeslieder des Petrarca mit solchem unvergänglichen Zauber bekleidet, weil er ein wirkliches Genie, d. h. ein allseitig bedeutender, auch ein tiefsittlicher, wenngleich im Drange der Leidenschaft fehlender, und ein tiefdenkender Mensch war. Diese Genialität kann kein Dichter in der Natur erst lernen, sie muß ihm schon in der glücklichen Constellation bei seiner Erzeugung geschenkt sein. Ohne sie kann zwar ein specifisches Talent noch immerhin Vortreffliches in seiner Art leisten, aber es wird nie zu einer, durch das Bedürfniß der Menschheit gebotenen, weltbeherrschenden Autorität gelangen und die Jahrhunderte überdauern. So weise ich beispielsweise auf zwei neuere talentvolle Lyriker hin, auf Heine und Nikolaus Lenau: Jenem fehlt alle ethische Begabung, bei Diesem ist ein intellectueller Defect bemerkbar. Deshalb bietet uns Jener statt in sich abgeschlossener harmonischer Kunstgebilde nur lose Blätter und Stamina der zerpflücten Blume des Gemüths. Und die Lyrik Lenau's, der mit so sichtlicher Vorliebe und nicht selten mit dem glücklichsten Erfolge – ich erinnere nur an die reizende Liebestrauer der durch und durch musikalischen "Schilflieder" – in die Schule der Natur gegangen ist, läßt uns nicht aus dem Grunde des Gefühls das Gold der Ideen fischen, deren Gehalt am Ende doch das einzige Wahrzeichen ist von der Tiefe des Gefühls und die aller Kunst wesentliche Versöhnung zwischen Gemüth und Schicksal stiftet. Diese Versöhnung eben ist es, die wir aus dem Naturlaute des Genies als die Melodie, sei sie hoch oder tief, in Dur oder Moll gesetzt, leise heraustönen hören. So in den Goethe'schen Liedern. Und an diesem Dichter ist auch zugleich deutlich zu zeigen, was man von der Natur nehmen solle und was nicht: nämlich die Form und nicht den Inhalt. Poeten, denen es an innerm Gehalte gebricht, misverstehen die Anregung der Natur und nehmen vom bloßen Stoffe Stoff zu ihren Gedichten; von solchen ist die Natur von jeher ausgebeutet oder copirt worden. Schon Horaz rügt die in der poetischen Noth vom Zaun abgebrochene Naturmalerei, und Lessing weist in [427] seinen berühmt gewordenen "Untersuchungen über die Grenzen der Poesie und Malerei" die Zweckwidrigkeit des poetischen Beschreibens der Erscheinungen im Raume überhaupt nach, wenn sie nicht in Handlungen übersetzt, d. h. in die Zeit gebracht würden. Dieses aber ist eben die Klippe, an welcher der Minuspoet scheitert. Wenn es ihm aber auch gelänge, er würde damit nicht den Samen für ein echtes Gedicht, sondern immer nur einen Boden gewonnen haben, auf dem dieser wachsen kann, einen Boden, der so lange hors d'oeuvre bleibt, bis er in dem Organismus des wirklichen Gedichts fruchtbar wird und somit eine völlige Verwandlung eingeht.

Man vergleiche das Goethe'sche Lied "An den Mond" mit dem von Schiller belobten "Mondscheingemälde" Matthisson's. Die beiden ersten Strophen des letztern lauten:

Der Vollmond schwebt im Osten;
Am alten Geisterthurm
Flimmt bläulich im bemoosten
Gestein der Feuerwurm.
Der Linde schöner Sylphe
Streift scheu in Lunens Glanz,
Im dunkeln Uferschilfe
Webt leichter Irrwischtanz.

Die Kirchenfenster schimmern;
In Silber wallt das Korn;
Bewegte Sternchen flimmern
Auf Teich und Wiesenborn;
Im Lichte weh'n die Ranken
Der öden Felsenkluft;
Den Berg, wo Tannen schwanken,
Umschleiert weißer Duft.

Und so schreitet das nur sieben Strophen große "Gemälde" rasch fort, nimmt noch den "Erlenbach, der hier durch Binsenstellen, dort unter Blumen schäumt", sodann, als "lodernde Cascade des Dorfes Mühle treibt", in seinen Rahmen auf, desgleichen die "bleich und schauerlich gesenkten Fichten", die "bebüschten Trümmer der Wasserleitung", die "düstern Eiben der kleinen Meierei", nicht minder "die bunten Scheiben der gothischen Abtei", ferner "die ungeheuren Massen gezackter Felsenreih'n", die "von Immergrün umwebte Eremitenzelle", die "durch Feld und Wald schweifenden Elfenheere", welche der "Schäfer" mit seinem "Wollenvieh" am "Purpurkreise" auf dem "Wiesenplan" erkennt, bis es endlich mit den "Feenträumen", die der Mond "um unsere Schläfe flicht", abschließt. Wir sehen hier von geschickter Hand allerlei bunte Steinchen zum Mosaik zusammengesetzt, werden wir aber, wird Schiller, welcher selbst lehrt: "Du nur, Genius, mehrst in der Natur die Natur" sagen können, dies sei das Werk des Genius, dies sei Poesie? Schiller ("Ueber Matthisson's Gedichte") bejaht diese Frage, indem er dabei sagt: "Dringt der Tonsetzer und der Landschaftsmaler in das Geheimniß jener Gesetze ein, welche über die innern Bewegungen des menschlichen Herzens walten und studirt er die Analogie, welche zwischen diesen Gemüthsbewegungen und gewissen äußern Erscheinungen stattfindet, so wird er aus einem Bildner [428] gemeiner Natur zum wahren Seelenmaler, er tritt aus dem Reich der Willkür in das Reich der Nothwendigkeit ein und darf sich, wo nicht dem plastischen Künstler, der den äußern Menschen, doch dem Dichter, der den innern zu seinem Objecte macht, getrost an die Seite stellen." Das Wahre an diesem Urtheil ist: daß nur die Form, welche der Künstler seinem Gegenstande gibt, nicht dessen Inhalt (hier die menschliche Empfindung oder Idee) das Kunstmäßige ausmacht; das Falsche daran aber ist: daß gleichwol ein äußerer Gegenstand als solcher festgehalten und gleichsam nur als Leitungsapparat für den, sonst unmittheilbaren, Kunst-Inhalt betrachtet wird, während doch die Kunst sich an ihm selbst und um seiner selbst willen formgebend müßte bethätigen können, wenn er überhaupt Object derselben sein soll. Nicht also die "gemeine Natur" wäre hier der Gegenstand des Gedichts, sondern der innere Mensch mit seinen Gemüthsbewegungen, und die poetische Aufgabe bestände nur in der Auffindung gewisser Analogien zwischen beiden. Dies ist der falsche Idealismus, die Achillesferse der Schiller'schen Muse. Als ob die Natur, in der wir leben, weben und sind, nicht dieselbe Gesetzmäßigkeit und Nothwendigkeit in sich trüge wie wir selbst, als ob Vernunft und Schönheit nur in unserm engen Bewußtsein, nicht im Sein der Welt überhaupt lägen! Aber freilich weder die Symbolisirung und Allegorisirung, noch die beschreibende Nachahmung dieser Naturschönheit führt zur Kunst und in unserm Falle zur poetischen Seelenmalerei: dies Lob verdiente jene Matthisson'sche Poesie nicht, denn es fehlt ihr der männliche Factor, die befruchtende, einige und einigende Schöpferkraft des individuellen Genius, welcher in der Umarmung mit der weiblichen Natur der Dinge das Kunstwerk als ein organisches, individuelles, lebendiges erzeugt. Bei einer Poesie wie die des "Mondscheingemäldes" kommt es nicht zu dieser Vermählung, vielmehr verliebt und verliert sich der weibliche Factor des Dichtergemüths mit seinem aus der Natur gezogenen Lebensinhalte in sich selbst und bleibt unbefruchtet. Denn die Natur vermag die Rolle des Genius nicht zu übernehmen. Daher fehlt auch dieser Poesie die organische Einheit und es bleibt bei bloßem Aneinanderreihen von Perlen und Perlchen an der poetischen Schnur des Rhythmus und der Reime; dahingegen jedes echte, vom Genius eingegebene Gedicht sozusagen ein lebensfähiges Kind ist, welches Vater und Mutter hat. Weit entfernt demnach, daß eine solche Minuspoesie die Natur beseele, gebiert sie vielmehr nur ein seelloses Kind der Afternatur, mit welchem die wirkliche nichts gemein haben kann.

Schiller sagt bei Gelegenheit der Beurtheilung der Matthisson'schen Gedichte, die landschaftliche Natur gebe für die schönen Künste gewisse [429] Formen der Empfindungen und Ausdrücke der Ideen ab vermöge der symbolisirenden Einbildungskraft. Indem nämlich die Vernunft das zufällige Spiel derselben mit ihrem eigenen Verfahren übereinstimmend zu machen strebe, biete sich ihr manche Erscheinung in der Natur, welche nach ihren eigenen Regeln behandelt werden könne und somit ein Sinnbild ihrer Handlungen werde; der todte Buchstabe der Natur werde so zu einer lebendigen Geistersprache. Allein wem die Natur jemals als todter Buchstabe erschienen, der ist schon mit dem Vorurtheil der Abstraction in sie eingetreten, und wenn er nun die pechschwarze Brille der letztern mit der bunten der Reflexion vertauscht, so hat er wenig gewonnen. So ergeht es Schiller selbst in seinem "Spaziergang", dessen Naturschilderung am Eingange ganz von derselben mühsamen und zusammenhangslosen Mosaikarbeit ist, wie die besprochene Matthisson'sche – aber der Genius führt unsern Dichter im Ausgange des (von ihm selbst so hochgestellten) Gedichts auf den rechten Weg und läßt ihn die tiefere Wahrheit, von welcher seine Theorie nichts wissen will, poetisch aussprechen in den vortrefflichen Worten:

Bin ich wirklich allein? in deinen Armen, an deinem
Herzen wieder, Natur, ach! und es war nur ein Traum,
Der mich schaudernd ergriff; mit des Lebens furchtbarem Bilde,
Mit dem stürzenden Thal stürzte der finst're hinab.
Reiner nehm' ich mein Leben von deinem reinen Altare,
Nehme den fröhlichen Muth hoffender Jugend zurück!
Ewig wechselt der Wille den Zweck und die Regel, in ewig
Wiederholter Gestalt wälzen die Thaten sich um.
Aber jugendlich immer, in immer veränderter Schöne
Ehrst du, fromme Natur, züchtig das alte Gesetz,
Immer dieselbe, bewahrst du in treuen Händen dem Manne,
Was dir das gaukelnde Kind, was dir der Jüngling vertraut,
Nährst an gleicher Brust die vielfach wechselnden Alter;
Unter demselben Blau, über dem nämlichen Grün
Wandeln die nahen und wandeln vereint die fernen Geschlechter,
Und die Sonne Homer's, siehe! sie lächelt auch uns.

Hier ist nicht mehr von Empfindungen und Ideen die Rede, mit welchen wir eine todte Natur, indem wir uns dieselbe als Sinnbild unserer innern Zustände einbilden, gleichsam erst beseelen sollten: sondern umgelehrt hat die Natur mit einemmal einen völligen Umschlag mit dem Gemüthe des Dichters bewirkt, dessen vorherigen Zustand insgesammt verworfen, tabula rasa in ihm gemacht und dasselbe sodann aus der Fülle ihrer eigen Wahrheit und Schönheit wieder neu angelegt. Dies war nur dadurch möglich, daß zwischen ihr und dem menschlichen Gemüthe eine ursprünglich vorhandene, nur verloren gegangene Wesenseinheit beider wiederhergestellt ward, daß die ewigen [430] Gesetze, die Formen alles Daseins und Werdens in der Natur in ihrer ursprünglichen Reinheit bewahrt und erkennbar geblieben und sich dem hingebenden Gemüthe geoffenbart – nicht durch eine zufällige willkürliche Operation der Einbildungskraft, sondern nothwendig, unwillkürlich, durch die reine Anschauung und Empfindung. Man kann die Aneignung derselben nicht begrifflich darstellen, weil das Gefühl in seiner Unmittelbarkeit unveräußerlich ist; man muß sie durch dieses selbst an sich erfahren – "wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen!" – man kann nur die Ursachen und die Wirkungen derselben sich in Begriffen deutlich machen.

Kehren wir also zum Lyriker zurück und betrachten die Wirkungen dieser Aneignung der ewigen Lebensgesetze durch die Natur an einigen Beispielen unserer classischen Poesie. Zunächst, wo sich das Gefühl und die schaffende Phantasie, d. i. der Genius an und in der Natur direct orientirt, wo die Natur mit ausgesprochenen Worten in das Gedicht unmittelbar hereingezogen wird. So in dem Liede Goethe's "An den Mond"

Füllest wieder Busch und Thal
Still mit Nebelglanz,
Lösest endlich auch einmal
Meine Seele ganz;

Breitest über mein Gefild
Lindernd deinen Blick,
Wie des Freundes Auge mild
Ueber mein Geschick.

Der Dichter wählt den Mond zum Vertrauten seiner Wehmuth, keineswegs etwa symbolisch oder allegorisch: dies würde ihn nur zu einer kalten Reflexion, nicht zu einem lebenswarmen Gedicht geführt haben: sondern weil eben das Mondlicht und die in seinem bleichen Strahle ruhende Erde wirklich seine Seele löst, die gebundenen Flügel seines Gefühls hebt, daß es sich ins Gleichgewicht setzt und in der ethischen und ästhetischen Erkenntniß seiner selbst unvermerkt zur Beruhigung, zur Versöhnung gelangt, zum Gedichte wird. Den Rhythmus desselben mißt der Dichter an der Woge des dahingleitenden Flusses:

Rausche, Fluß, das Thal entlang
Ohne Rast und Ruh',
Rausche, flüst're meinem Sang
Melodien zu!

So kommt das Gefühl mit sich selbst zum Abschlusse und der Dichter spricht es zum Schlusse aus, wie er dessen Lösung der Natur verdankt:

Was von Menschen nicht gewußt,
Oder nicht gedacht,
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.

Sehen wir denselben Dichter nun bei Tag, unter dem glänzenden Frühlingshimmel:

[431] Wie herrlich leuchtet
Mir die Natur!
Wie glänzt die Sonne!
Wie lacht die Flur!
Es dringen Blüten
Aus jedem Zweig
Und tausend Stimmen
Aus dem Gesträuch.

Und Freud' und Wonne
Aus jeder Brust.
O Erd', o Wonne!
O Glück, o Lust!
O Lieb', o Liebe!
So golden schön,
Wie Morgenwolken
Auf jenen Höh'n! etc.

Wer fühlt dem Dichter hier nicht nach, wie die Natur ihm die Sprache gibt? Das unendliche Glück der Liebe hat vorher in ihm keine Sprache gehabt, es war zu tief, zu voll, zu bewegt, sich in Worten zu fassen: aber die ausgesprochene, laut vernehmbare Lust der Natur lehrt ihn aufjauchzen, Licht und Luft öffnen alle Poren des Gefühls, auf der Blumenleiter des lachenden Mai steigt dasselbe hüpfend empor, die verwandten Stimmen in der Natur umjubeln es und setzen es in die Harmonie des Liedes. Im Liebeleben der Natur erkennt und spiegelt sich sein eigenes: denn die Grundform alles Lebens, die Harmonie des Gegensatzes, d. i. daß Zwei Eins werden in einem höhern Dritten, spricht sich in der Natur überall deutlich aus:

So liebt die Lerche
Gesang und Luft,
Und Morgenblumen
Den Himmelsduft,
Wie ich dich liebe
Mit warmem Blut etc.

Aber nicht nur direct, sondern auch indirect erwirbt die Natur ihren Antheil an dem Gedicht. Oft ist es ein längst unbewußt im Dichtergemüth gehegter Eindruck aus dem Leben der Natur, welcher unter irgend einer mehr zufälligen als gewollten Vermittelung plötzlich wirksam wird und dem Dichter zur Gestaltung seines Stoffs verhilft; oft ladet ihn die lebhafte Reminiscenz solcher Eindrücke zur Wiederholung der Situation selbst ein. Betrachten wir als Beispiel des letztern Falles den Ton der Empfindung in:

Daß Wasser rauscht, das Wasser schwoll,
Ein Fischer saß daran,
Sah nach der Angel ruhevoll,
Kühl bis ans Herz hinan.

Und wie er sitzt und wie er lauscht,
Theilt sich die Flut empor:
Aus dem bewegten Wasser rauscht
Ein feuchtes Weib bervor.

Die ganze musikalische Wirkung dieser Ballade ist der Natur entlehnt: es ist der Tonfall am Ufer des Meeres oder eines größern Flusses, welcher hier in der Liebessehnsucht des Fischers menschliche Gestalt gewinnt.

Labt sich die liebe Sonne nicht,
Der Mond sich nicht im Meer?
Kehrt wellenathmend ihr Gesicht
Nicht doppelt schöner her?

Lockt dich der tiefe Himmel nicht,
Das feuchtverklärte Blau?
Lockt dich dein eigen Angesicht
Nicht her in ew'gen Thau?

[432] Das ist das Dichtergemüth, wie es sich in der Natur findet und von ihren Erscheinungen Form und Farbe nimmt, nicht etwa umgekehrt unternimmt es der Dichter, seine Empfindungen und Ideen der Natur aufzudrängen.

Oder nehmen wir endlich ein Beispiel, wo gar kein directer Zusammenhang zwischen der Natur und dem Gedichte aus dessen Inhalt hervortritt, lesen wir "Die Braut von Korinth". Hier kann man freilich nicht an die einzelnen Worte sich halten, allein diese sind auch nicht die Seele des Gedichts; wol aber frage ich: Ist nicht die Atmosphäre, in welcher das Ganze aufwächst und die Handlung vorübergeht, die des Sommernachthimmels, an dem ein Gewitter heraufzieht, das sich sodann auf die Erde entladet, und würde wol der Dichter seine Idee gerade in dieser Harmonie sich entfalten und ausklingen haben lassen, wenn ihm nicht unbewußt ein solches Musterbild aus dem großen Diorama der Natur vor dem innern Auge gestanden hätte? Wer an sich selbst nicht solche specifische Wirkungen der Natur auf die Gestaltungsweise der schaffenden Phantasie erfahren hat, wem also dies vielleicht nicht einleuchten will, dem gebe ich den besondern Fall bereitwillig nach und behaupte nur im Allgemeinen die An- und Ausbildung des dichterischen Gemüths an den großen einfachen Thatsachen des immer gleich großen und schönen Lebens der Natur.

Wie es sich mit der epischen und dramatischen Dichtkunst auf ähnliche Weise verhalte, wie wir es hier bei der lyrischen gesehen, bedarf für den denkenden Leser kaum mehr der Ausführung. Wer hat doch den kindlichen Genius des großen Homer, wer die ernste Muse Dante's *) und die heitere des Ariosto erzählen und schildern gelehrt? ist es nicht die Schule der Natur gewesen, die sie zur ruhigen, stetigen Entwickelung, zum organischen Wachsen und Reifen des Gedichts angeleitet? haben sie nicht ihr die Deutlichkeit und Anschaulichkeit des Einzelnen und die harmonischen Uebergänge abgemerkt? Wer hat Licht und Schatten gemischt in den Charakteren des Sophokles und Shakspeare? wer hat ihnen das Geheimniß der Handlung ohne Worte verrathen? nach welcher Regel erfüllt sich das Geschick in einem Oedipus, einer Antigone? ist es nicht dasselbe Gesetz, welches den Strom in das Meer stürzt, welches im Blitze leuchtet und im Donner rollt? Wer hat einer Julia die Liebesglut eingehaucht? ist es nicht dieselbe Sonne, deren feurige Strahlen sich in das tiefe Blau des italienischen [433] Himmels senken? Was umdunkelt das Auge Hamlet's? ist es nicht derselbe bleiche Nebel, in den sich der nordische Herbsthimmel hüllt? und würde ein Dichter, im Süden erzeugt und nie nach Norden gekommen, jemals auch nur von dem Geiste Hamlet's geträumt haben? Unter den Alpen und in Italien reifte auch Goethe's Genius: nicht das Studium der Antike und das Hofleben in Weimar brachten ihm Iphigenia, Dorothea und Ottilien, sondern der wiedergewonnene Verkehr mit der erhabenen, reinen, klaren, ruhigen und milden Natur. Wer den Beweiß nicht in den Dichtungen selbst fände, der suche denselben in seinen Reiseskizzen, fast jedes Blatt erzählt davon: denn er erfuhr an sich selbst, was er den Rugantino die Lucinde fragen läßt:

                          Wer dichtet nicht,
Dem diese schöne reine Sonne scheint,
Der diesen Hauch des Lebens in sich zieht?

Und so schließe ich mit dem Rathe Hölderlin's "An die jungen Dichter":

Lieben Brüder, es reift unsere Kunst vielleicht,
Da, dem Jünglinge gleich, lange sie schon gegährt,
    Bald zur Stille der Schönheit;
        Seid nur fromm, wie der Grieche war!

Liebt die Götter und denkt freundlich den Sterblichen!
Haßt den Rausch wie den Frost! lehrt und beschreibet nicht!
    Wenn der Meister euch ängstigt,
        Fragt die große Natur um Rath!

 

 

[Fußnote, S. 432]

*) Ich erinnere an die Tradition vom Sasso di Dante, auf dem dieser dichtend zu sitzen pflegte, den Blick über den Dom der "blühenden Stadt" hin, auf das Arnothal gewendet. Aehnliche Ueberlieferungen bieten uns die Lebensbeschreibungen vieler Dichter.   zurück

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Deutsches Museum.
Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben.
1855, Nr. 12, 22. März, S. 417-433.

Unser Auszug: S. 425-433.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


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Deutsches Museum    inhaltsanalytische Bibliographie
Alfred Estermann: Inhaltsanalytische Bibliographien deutscher Kulturzeitschriften des 19. Jahrhunderts - IBDK.
Band 1; 2 Teile: Deutsches Museum (1851-1867). München u.a. 1995.

 

 

Zeitschriften-Repertorien

 

 

 

Literatur: anonym

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Böttcher, Philipp: Gustav Freytag – Konstellationen des Realismus. Berlin 2018.

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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer