Allgemeine Realencyclopädie
oder Conversationslexicon für das katholische Deutschland

 

 

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[Lyrik, Lyrische Poesie]

 

Lyrik, Lyrische Poesie, ist die Poesie des Innern, oder der inneren Zustände, nämlich der Gefühle, Anschauungen, Reflexionen, oder mit anderen Worten: die idealisirende Darstellung des Innern, als dessen unmittelbare Erscheinung durch die Sprache. Die L. nimmt nämlich von einer Seite die gesammte Welt der Gegenstände u. Verhältnisse in sich auf u. läßt sie vom Innern des einzelnen Bewußtseyns durchdringen, von der anderen Seite aber schließt sich das in sich gesammelte u. zurückgedrängte Gemüth auf und bringt jenes Innerliche durch Worte zur Anschauung. Indem solchergestalt der Dichter in eigener Person hervortritt u. das innere Gefühlleben in einer individuellen Unmittelbarkeit veranschaulicht, so ist die l. P. ihrer Eigenthümlichkeit nach subjektiv u. in ihrer Bewegung auf die Gegenwart selbst in dem Falle angewiesen, wenn auch die Gemüthslage durch Vergangenheit oder Zukunft veranlaßt erscheint. Der ästhetische Charakter der l.n P. begnügt sich indeß nicht mit der bloßen Subjektivität des Dichters in der Darstellung seiner Innerlichkeit, sondern verlangt, daß die Gemüthsäußerungen in sich selbst eine tiefere Bedeutung haben, sich über den Kreis des Gemeinen u. Gewöhnlichen zum Bewußtseyn der inneren Freiheit u. Würde des Menschen erheben u., in der Sprache veranschaulicht, die möglich vollendete Form erhalten, damit sie nicht als der Ausdruck eines einzelnen Individuums, sondern gleichsam als ideale Nothwendigkeit erscheinen u. auch der Nachwelt verständlich bleiben. Nun ist es zwar allerdings wahr, daß die Anschauungen u. Empfindungen, welche der Dichter als die seinigen schildert, wahrhafte Emfindungen u. Betrachtungen seyn müssen, für die auch die Poesie den gemäßen Ausdruck erfindet u. trifft, mithin selbst das Höchste u. Tiefste des menschlichen Glaubens, Vorstellens und Erkennens, insofern solches sich nach der Form der Anschauung fügt u. in die Empfindung eingeht, zum allgemeinen Inhalte der L. gehört u. nur in besonderer Weise sich ausspricht; allein ohne Zweifel ist auch die Bemerkung richtig, daß, weil im Lyrischen das Subjekt sich ausspricht, diesem Aussprechen selbst der geringfügigste Inhalt genügen kann. So sind alsdann die Gegenstände das ganz Zufällige, und es handelt sich nur noch um die subjektive Auffassung u. Darstellung. – In Beziehung auf die Mannigfaltigkeit des lyrischen Gedichts entscheidet die innere Anschauungsweise des Dichters. Das Ganze nimmt daher vom Herzen u. Gemüth, und näher von der besonderen Stimmung u. Situation des dichterischen Subjekts seinen Anfang, u. so entstehen die aller verschiedensten Normen für den innern Fortgang u. Zusammenhang, dieser Wandelbarkeit des Innern wegen. Als Arten der eigentlichen L. nennt man: den Hym[969]nus, Dithyrambus, Päan, Psalm, die Ode, das Lied (mit seinen verschiedenen Unterarten), das Sonett, die Sestine, Elegie, Epistel (s. dd.). Gleichwie die Empfindung im dichterischen Gemüthe nicht gleichmäßig fortschreitet, seine innere Bewegung vielmehr wechselt, sich hebt und senkt, so soll auch in Betreff der äußeren Form der L. ein Wechsel der lebendigen Bewegung im Rhythmus herrschen u. daher ist für sie die größte Mannigfaltigkeit der Metra u. die vielseitigere innere Struktur derselben mit Recht zu fordern. Die griechische L. hat den Namen von λύρα u. bezeichnet ursprünglich Gedichte, die zur Lyra (s. d.) gesungen wurden. Ihr Gefühlsausdruck diente aber auch besonders zur anschaulichen Schilderung der Gegenstände, u. das in ihr herrschende Gefühl ist aus dem Eindrucke der Umgebungen von einem unbefangenen Gemüthe aufgefaßt u. ausgesprochen. Plato fand nur in den Hymnen u. Enkomien jene höhere L., die sich durch Feinheit des Gefühls, durch richtigen Takt u. durch einen ausgebildeten Sinn für alles Schöne auszeichnet. Und diese L., die, ihm zufolge, aus Rede, Melos u. Rhythmus besteht, nennt er vorzugsweise Musik. Die römische L. beschränkt sich größtentheils auf das Zeitalter Augusts u. bleibt der griechischen weit untergeordnet. – Aus der oben entwickelten Eigenthümlichkeit der L. erklärt sich zugleich ganz ungezwungen die Unzahl der lyrischen Gedichte selbst, welche sämmtliche zu lesen wohl einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen würde, als den eines Menschenalters. Es ist dieß jedoch keineswegs eine nur der heutigen Zeit angehörige Erscheinung, vielmehr hat schon Cicero das Nämliche von der seinigen bemerkt: "Negat Cicero, si duplicetur actas, habiturum, se tempus, quo legat lyricos" (Senec. epist. 49). Ausführliches über die l. P., und über ihre geschichtliche Entwickelung enthält Hegel (Aesthet III., S. 419–478), und treffliche Bemerkungen über die L. der Griechen H. Ulrici, Geschichte der hellenischen Dichtkunst, Berlin 1835.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Allgemeine Realencyclopädie oder Conversationslexicon für das katholische Deutschland.
Bearbeitet von einem Vereine katholischer Gelehrten und herausgegeben von Dr. Wilhelm Binder.
Sechster Band: Karl – Maronen.
Regensburg: Manz 1848, S. 968-969.

Ungezeichnet.

PURL: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10400848-3
URL: https://archive.org/details/bub_gb_zxYPAAAAIAAJ
URL: https://books.google.de/books?id=zxYPAAAAIAAJ

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Allgemeine Realencyclopädie oder Conversationslexicon für das katholische Deutschland (12 Bde. 1846-1850)  online
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Enzyklopädien_und_Lexika#Erste_Auflage_zwischen_1750_und_1850
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/007911574
URL: http://www.zvdd.de/startseite/

 

 

Enzyklopädien-Repertorium

 

 

 

Literatur

Brandmeyer, Rudolf: Das historische Paradigma der subjektiven Gattung. Zum Lyrikbegriff in Friedrich Schlegels "Geschichte der Poesie der Griechen und Römer". In: Wege in und aus der Moderne. Von Jean Paul zu Günter Grass. Herbert Kaiser zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Werner Jung u.a. Bielefeld 2006, S. 155-174. [PDF]

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Zymner, Rüdiger: Gattungen. In: Handbuch Komparatistik. Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis. Hrsg. von Rüdiger Zymner u. Achim Hölter. Stuttgart u. Weimar 2013, S. 100-104.

Zymner, Rüdiger: Theorien der Lyrik seit dem 18. Jahrhundert. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 23-36.

 

 

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