Johann Georg Krünitz
ökonomisch-technologische Encyklopädie

 

 

[Lyrische Dichtkunst]

 

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Lyrische Dichtkunst. Die lyrischen Gedichte haben diese Benennung von der Lyra oder der Leyer der Alten, unter deren begleitendem Klange sie bey den ältesten Griechen abgesungen wurden; und wenn zu einigen Arten auch die Flöte gebraucht worden ist, und man andere Dichtungen vielleicht auch singend vorgetragen hat: so [116] besteht der Charakter der lyrischen Gedichte ursprünglich doch darin, daß sie eigentlich für den Gesang bestimmt seyn sollten.

Um also diesen allgemeinen Charakter des Lyrischen zu entdecken, darf man nur den Ursprung und die Natur des Gesanges näher betrachten. Er entsteht allemahl aus der Fülle der Empfindungen, und erfordert eine abwechselnde rythmische Bewegung, die der Natur der besonderen Empfindung, die ihn veranlaßt, angemessen ist. Niemand erzählt oder lehret singend, wo nicht etwa die Aeußerung einer Leidenschaft zufälliger Weise in diese Gattung fällt. Lyrische Gedichte werden deswegen immer von einer leidenschaftlichen Laune hervorgebracht; wenigstens ist sie darin herrschend; der Verstand oder die Vorstellungskraft aber sind da nur zufällig.

Der Inhalt eines lyrischen Gedichts ist immer die Aeußerung einer Empfindung, oder die Uebung einer fröhlichen, oder zärtlichen, oder andächtigen, oder verdrießlichen Laune, an einem ihr angemessenen Gegenstande. Aber diese Empfindung oder Laune äußert sich da nicht beyläufig, nicht kalt, wie bey verschiedenen anderen <Gelegenheiten>; sondern gefällt sich selbst, und setzt in ihrer vollen Aeußerung ihren Zweck. Denn eben deswegen bricht sie in Gesang aus, damit sie sich selbst desto lebhafter und voller genießen möge. So singt der Fröhliche, um sein Vergnügen durch diesen Genuß zu verstärken; und der Traurige klagt im Gesange, weil er an dieser Traurigkeit Gefallen hat. Bey andern Gelegenheiten können dieselben Empfindungen sich in andern Absichten äußern, die mit dem Gesange keine Verbindung haben. So läßt der [117] Dichter in der Satyre und im Spottgedichte seine verdrießliche oder lachende Laune aus, nicht um sich selbst dadurch zu unterhalten, sondern andere damit zu strafen.

Aus diesem Charakter der Lyrischen Gedichte fließt noch die Eigenschaft derselben, daß der lyrische Ton durchaus empfindungsvoll seyn, und jede Vorstellung entweder durch diesen Ton, oder durch eine andere ästhetische Kraft erhöhet werden müsse, damit durch das ganze Gedicht die Empfindung nirgends erlösche. Nichts ist langweiliger als eine Ode, darin eine Menge zwar guter aber in einem gemeinen Ton vorgetragener Gedanken vorkommen. Daß der besonders leidenschaftliche Ton bey dem lyrischen Gedichte eine wesentliche Eigenschaft ausmache, sieht man am deutlichsten daraus, daß die schönste Ode in einer wörtlichen Uebersetzung, wo dieser Ton fehlt, alle ihre Kraft völlig verliert.

Hieraus ist auch die äußere Form des lyrischen Gedichts entstanden. Da lebhafte Empfindungen immer vorübergehend sind, und folglich nicht sehr lange dauern, so sind die lyrischen Gedichte nie von beträchtlicher Länge. Doch schickt sich auch die völlige Kürze des Sinngedichtes nicht dafür, weil der Mensch natürlicher Weise bey der Empfindung, die ihm selbst gefällt, sich verweilt, um entweder ihren Gegestand von mehreren Seiten, oder in einer gewissen Ausführlichkeit zu betrachten, oder weil das ins Feuer gesetzte Gemüth sich allemahl mit seiner Empfindung selbst eine Zeitlang beschäfftiget, ehe es sich wieder in Ruhe setzt.

Natürlicher Weise sollte das lyrische Gedicht wohlklingender und zum Gesang mehr einladend seyn, als jede andere Art, auch perio[118]disch immer wiederkommende Abschnitte, oder Strophen haben, die weder allzulang, und für das Ohr unfaßlich, noch allzukurz, und durch das zu schnelle Wiederkommen langweilig werden. So sind auch in der That die meisten lyrischen Gedichte der Alten. Aber der eigentliche Hymnus der Griechen, der in Hexametern ohne Strophen ist, geht davon ab. Auch ist in der That die Empfindung darin von der ruhigern, mit stiller Bewunderung verbundenen Art, für welche der Hexameter nicht unschicklich ist.

Die Griechen hatten ungemein vielerley Arten des Lyrischen Gedichtes, deren jeder, so wohl in Ansehung des Inhalts, als der Form, ein genau ausgezeichenter Charakter vorgeschrieben war. Doch können sie in vier Hauptarten eingetheilt werden: in den Hymnus, die Ode, das Lied, und die Idylle; wenn man nicht noch die Elegie dazu rechnen will, deren Inhalt in der That lyrisch ist. Aber jede dieser Hauptarten hatte wieder ihre <verschiedenen> Unterarten, die wir aber, da die Sache für uns nicht wichtig genug ist, nicht herzählen wollen. Bey uns theilt man die lyrischen Gedichte besonders in zwey Hauptgattungen, die sich durch Inhalt und Vortrag merklich unterscheiden; nähmlich in die Ode und das Lied, worunter wieder mehrere Arten begriffen werden. Jene hat erhabene Gegenstände, stärkere Empfindungen. höheren Schwung der Gedanken und des Ausdrucks; dieses wird gewöhnlich durch leichtere und sanftere Gefühle veranlaßt, und hat daher auch einen leichteren und gemäßigteren Ton. Da von dem letzteren schon in dem 78sten Theile, in den Artikeln Lied, und Liederdichter, gehandelt ist, und die Ode unten vorkommen wird, so [119] kann ich hier davon schweigen. Im allgemeinen sind über den Charakter und die Eigenschaften der lyrischen Poesie vorzüglich folgende Werke nachzusehen.

J G. Sulzer's allgemeine Theorie der Schönen Künste, die Art. Lyrisch; Hymne; Ode; Lied.

Batteux Einleitung in die schönen Wissenschaften. Mit Zusätzen von Ramler. III. Th. S. 3. fl. vergl. mit Schlegel's Batteux, I Th. S. 362. 380.

Poet. Franç. de Marmontel, T. II. Ch. XV.

Engel's Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten, aus deutschen Mustern entwickelt. I. Th. VIII Hauptst.

Eschenburg's Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften. VII Abschn. von der lyrischen Poesie.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

D. Johann Georg Krünitz
ökonomisch-technologische Encyklopädie,
oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirthschaft, und der Kunst-Geschichte,
in alphabetischer Ordnung.
Fortgesetzt von Friedrich Jakob Floerken, nunmehr von Heinrich Gustav Flörke.
Theil 82, von Lustgefecht bis Mailing. Berlin: Pauli 1801, S. 115-119.

Ungezeichnet.

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Literatur

Brandmeyer, Rudolf: Das historische Paradigma der subjektiven Gattung. Zum Lyrikbegriff in Friedrich Schlegels "Geschichte der Poesie der Griechen und Römer". In: Wege in und aus der Moderne. Von Jean Paul zu Günter Grass. Herbert Kaiser zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Werner Jung u.a. Bielefeld 2006, S. 155-174. [PDF]

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Cullhed, Anna: The Language of Passion. The Order of Poetics and the Construction of a Lyric Genre 1746 – 1806. Frankfurt a.M. u.a. 2002 (= Europäische Hochschulschriften; Reihe 18, 104).

Donato, Clorinda: Übersetzung und Wandlung des enzyklopädischen Genres. Johann Georg Krünitz' "Oeconomische Encyklopädie" (1771 - 1858) und ihre französischsprachigen Vorläufer. In: Kulturtransfer im Epochenumbruch: Frankreich - Deutschland 1770 bis 1815. Hrsg. von Hans-Jürgen Lüsebrink u. Rolf Reichardt. Bd. 2. Leipzig 1997, S. 539-565.

Fröhner, Annette: Technologie und Enzyklopädismus im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Johann Georg Krünitz (1728 - 1796) und seine Oeconomisch - technologische Encyklopädie. Mannheim 1994.

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Zymner, Rüdiger (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart u. Weimar 2010.

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