Johann Jacob Engel

 

 

Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten
aus deutschen Mustern entwickelt

 

Von den verschiedenen Dichtungsarten
Von dem lyrischen Gedicht

Editionsbericht
Literatur

 

Zweytes Hauptstück.
Von den verschiedenen Dichtungsarten.

 

Wir haben in dem vorhergehenden Hauptstücke verschiedener Dichtungsarten erwähnen hören. Von diesen Dichtungsarten hat schon ein jeder, der nur nicht ganz unbelesen ist, einen ungefähren Begriff, der nur etwas mehr braucht aufgeklärt und genauer bestimmt zu werden. Wir wollen also nun ausdrücklich fragen: Worin besteht der Unterschied unter ihnen? Lassen sie sich alle unter eine Eintheilung bringen? Oder sind sie Glieder mehrerer Eintheilungen, die aus verschiedenen Gründen gemacht sind? Und wenn das letztere ist; welches sind diese Gründe? – Um hierauf zu antworten, müssen wir auf gut Glück einige Dichtungsarten herausnehmen, sie vergleichen und uns Rechenschaft von ihrem Unterschiede geben.

Worinn mag also, z.B., der Unterschied zwischen einem lyrischen Gedichte und einem Lehrgedichte liegen? Das Lehrgedicht, finden wir, ist eigentlich nur zur Deklamation eingerichtet, es ist in einer einförmigern Versart, mit weniger Abwechselung des Silbenmaaßes, weniger [16] Schwung, weniger merkbarem Rhythmus geschrieben, als das lyrische mehr sangbare Gedicht. Man vergleiche z.B. die erste Hallerische Stelle mit der zweyten von Uz:

      Wohlangebrachte Müh! Gelehrte Sterbliche!
      Euch selbst mißkennet ihr, sonst alles wißt ihr eh.
Ach! Eure Wissenschaft ist noch der Weisheit Kindheit,
Der Klugen Zeitvertreib, ein Trost der stolzen Blindheit.
      Allein was wahr und falsch, was Tugend, Prahlerey,
      Was falsches Gut, was echt, was Gott und jeder sey,
Das überlegt ihr nicht; ihr dreht die feigen Blicke
Vom wahren Gute weg, und sucht ein träumend Glücke.

      Mit sonnenrothem Angesichte
Flieg ich zur Gottheit auf. Ein Strahl von ihrem Lichte
Glänzt auf mein Saitenspiel, das nie erhabner klang!
Durch welche Töne wälzt mein heiliger Gesang,
Wie eine Fluth von fuchtbarn Klippen
Sich strömend fort, und braust von meinen Lippen!

Sollte denn aber der ganze Unterschied nur hierinn, nur in der äußern Einrichtung liegen? – Dann müßte dieser Unterschied aufhören, sobald man beyde Werke, in Ansehung dieser äussern Einrichtung, einander ähnlich machte. Aber wir finden, daß ein lyrisches Stück und ein Lehrgedicht auch dann noch ihren Namen behalten, wenn in der Versart kein Unterschied mehr zu finden ist. Folgende Stellen sind beyde in Hexametern geschrieben, und doch nennt ein jeder die erste lyrisch, die andre didaktisch. Eva singt beym Kreutz des Messias:

[17] Du, mein Herr und mein Gott, wie kann ich, du Liebe! dir danken?
Ewigkeiten, sie sind zu kurz, genug dir zu danken!
Hier will ich liegen und beten, bis du dein göttliches Haupt nun
Neigst im Tode! Nur vor dem fürchterlichsten der Engel,
Nur vor seiner Stimme soll meine Stimme verstummen,
Wenn er kommt und es nun von deinem Vater verkündigt,
Der dich verlaßen hat. – Hör um dieser Todesangst willen,
Die für Sünder du fühlst, hör, Gottverlaßner, mein Flehen!
Herr! für deine Versöhnte, für meine Kinder, für alle,
Die das weite, das furchtbare Grab, die Erde (doch hats auch
Deine Gnade mit Blumen bestreut) noch künftig bewohnen,
Und, mit jedem vor deiner Versöhnung <entschlafnen> Jahrhundert,
An dem Tage der großen Entscheidung, auferstehn werden!
Meine zahllosen Kinder, für diese fleh ich dich, Herr, an!
Weinend, mit dürftigem Leibe, mit weit mehr dürftiger Seele
Werden sie auf die Erde gebohren u.s.w.

                                                              Klopstock.

Willst du die Ursach erforschen, warum in der Reihe der Wesen
Gott nicht zum Seraph dich schuf? Entdeck erst, Stolzer, weswegen
Er nicht zur Milbe dich schuf? Soll deiner Thorheit zum Vortheil
Die große Weltkette brechen, und tausend Planeten und Sonnen,
Aus ihren Kreisen gerückt, in einen Klumpen zerfallen?
[18] Soll bis zum Throne des Höchsten des Himmels Vorhang zerreißen,
Und endlich die ganze Natur, erschüttert zum Innnersten, seufzen?
Dieß willst du, wenn du verlangst, was mit der Weltordnung streitet.
Sey deiner Neigungen Herr, so wirst du das Unglück beherrschen;
Der Schöpfer ist Liebe und Huld, nur die sind deine Tyrannen.

                                                              Kleist.

Wenn wir diese Stellen vergleichen, in welchen uns nun keine äussern Verschiedenheiten mehr aufhalten, so finden wir leicht, worinn der Hauptunterschied liegt: in der erstern nehmlich wird mehr das Herz, in der andern mehr der Verstand beschäftiget; in jener schüttet der Dichter Empfindungen aus, in dieser trägt er allgemeine Wahrheiten vor, argumentirt, widerlegt. Der Unterschied beyder Dichtungsarten liegt also hauptsächlich im Inhalt, in der Materie. Und wenn es sonst noch Unterschiede giebt, in der Sprache, der Versart, der Folge und Verbindung der Gedanken, so scheinen diese eben durch jenen Hauptunterschied schon mit angegeben zu werden.

Worinn liegt, wollen wir ferner fragen, der Unterschied zwischen dem epischen Gedicht und dem Drama? Schwerlich, wie bey den vorigen, in der Materie; denn wie hätte dann Horaz dem tragischen Dichter rathen können, seinen Stoff aus einem epischen, dem Homer, [19] zu nehmen? Es muß möglich seyn, daß eben dieselbe Handlung von dem epischen Dichter erzehlt und von dem dramatischen wirklich vorgestellt werde. Hierinn also selbst wird der Unterschied liegen: daß nehmlich das einemal nur ein Zeuge spricht, das andremal die Personen selbst reden, unter denen die Handlung vorfällt. Mithin finden wir nun einen zweyten Eintheilungsgrund, der von dem vorigen ganz verschieden ist; nicht der behandelte Stoff oder die Materie macht den Unterschied, sondern die Art der Behandlung, die Form. Damit besteht dann noch immer, daß nicht jede Form sich zu jeder Materie schickt, oder daß manche Gegenstände nur die epische, manche nur die dramatische Behandlung vertragen.

Ehe wir weiter suchen, wollen wir sehen, wie weit wir mit diesen beyden Eintheilungsgründen ausreichen? ob nicht vielleicht schon alle, oder doch die meisten Dichtungsarten durch sie angegeben und unterschieden werden? – Wir fragen also zuerst: wie viel sind im Allgemeinen Unterschiede möglich, die aus der Materie entstehen?

Es scheint alles erschöpft zu seyn, wenn wir sagen: Der Dichter stellt entweder eine Sache vor, wie sie ist oder geschieht, es sey nun eine wirkliche oder eine erdichtete Sache, oder er stellt allgemeine Betrachtungen an, trägt allgemeine Wahrheiten vor, oder er bricht in Empfindungen aus. Im ersten Falle ist wieder zweyerley [20] möglich: denn entweder will er uns nur schlechtweg mit der Beschaffenheit eines Gegenstandes bekannt machen, uns nur zeigen, was alles an einer Sache zu bemerken ist, was sich alles nach einander begiebt, oder er will uns zeigen, (was er allein bey moralischen Wesen zeigen kann,) wie eins das andre hervorbringt, wie sich eins aus dem andern entwickelt. In jenem Falle beschreibt er bloß; in diesem läßt er uns Handlung sehen. – Wenn dieses, so allgemein gesagt, zu dunkel ist, so sehe man hier Beyspiele, die es erläutern können.

In folgender Stelle beschreibt Haller einen natürlichen Gegenstand, wie er ist:

Im Mittel eines Thals von himmelhohem Eise,
   Wohin der wilde Nord den kalten Thron gesetzt,
Entsprießt ein reicher Brunn mit siedendem Gebräuse,
   Raucht durch das wilde Gras und senget, was er netzt.
Sein lautres Wasser rinnt voll flüßiger Metallen;
   Ein heilsam Eisensalz vergöldet seinen Lauf;
Ihn wärmt der Erde Gruft und seine Fluthen wallen
   Von innerlichem Streit vermischter Salze auf.
Umsonst schlägt Wind und Schnee um seine Fluth zusammen;
   Sein Wesen selbst ist Feuer, und seine Wellen Flammen.

Kleist beschreibt in seinem Frühling verschiedenes, was nach einander geschieht:

– – – Aus seinem Gezelte geht lachend
Das gelbe Täubchen, und kratzt mit röthlichen Füßen den Nacken,
[21] Und rupft mit dem Schnabel die Brust, und untergräbet den Flügel,
Und eilt zum Liebling aufs Dach. Der Eifersüchtige zürnet,
Und dreht sich um sich und schilt. Bald rührt ihn die schmeichelnde Schöne;
Dann tritt er näher und girrt. Viel Küsse werden verschwendet.
Jetzt schwingen sie lachend die Flügel und säuseln über den Garten.

Ganz etwas anders findet man in folgendem kleinen Stücke; denn hier hängt alles innig zusammen; eins wird Ursache des andern; wir sehen freye, mit Absicht wirkende Wesen, die eins das andre bestimmen: mit einem Worte, es ist Handlung in dem Gedichte.

   Philippus war bemüht in Thracien zu dringen,
Und in dem Hinzug noch Methone zu bezwingen,
Als Aster, den man dort den besten Schützen hieß,
Sich diesem Könige zum Dienst entbieten ließ.
Ihn rühmten Hof und Land; von allen ward erzehlet,
Nur dieser habe nie des Schusses Ziel verfehlet,
Weil sein geschwinder Pfeil, dem er die Kraft ertheilt,
Oft Vögel in der Luft im schnellsten Flug ereilt.
Wohl, sprach Amyntas Sohn, wenn wir mit Staaren streiten,
So soll er ganz gewiß beym Angriff uns begleiten.
   Das scheint vortreflich schön. Denn wer bewundert nicht
Den göttlichen Verstand, so oft ein König spricht?
   Der Schütze, seine Kunst nicht mehr verhönt zu sehen,
Eilt, den Belagerten rachsüchtig beyzustehen.
[22] Er flieht in ihre Stadt, verstärkt die Gegenwehr,
Und machet Sturm und Sieg dem stolzen Heere schwer,
Das plötzlich sich gescheucht und voll Bestürzung fühlet,
Wie Asters scharfer Pfeil, der auf den König zielet,
Den ihm bestimmten Flug mit dieser Aufschrift nimmt:
Philippus rechtem Aug ist dieser Schuß bestimmt.
   Der König, der ihn nicht so fürchterlich geglaubet,
Bereut nunmehr den Scherz, der ihm sein Auge raubet,
Und schießt den Pfeil zurück mit dieser Gegenschrift:
Du, Aster, kommst ans Kreuz, sobald man dich betrift.
   Kaum ward der Friede drauf der frohen Stadt versprochen,
So ward auch Asters Scherz durch seinen Tod gerochen.

                                                              Hagedorn.

Vorausgesetzt nun, daß sich die vier angegebenen Arten von Materie alle poetisch behandeln lassen, alle an lebhaften Vorstellungen fruchtbar werden können – und das muß doch seyn, da wir von allen Beyspiele gesehen – so ergeben sich nun viererley verschiedene Dichtungsarten. Zuerst die malerische oder beschreibende; zweytens diejenige, die Handlungenthält, und für die wir im Allgemeinen keinen besondern Namen haben; drittens die didaktische oder lehrende, und viertens die lyrische Gattung.

Wir haben nun noch zweytens zu fragen: Was für neue Dichtungsarten ergeben sich, wenn wir auf die Art der Behandlung, die Form sehen? Der eine Unterschied ist in Ansehung derjenigen Gattung, die Handlung enthält, schon angegeben: entweder erzehlte nur ein Zeuge, oder die [23] <Personen> selbst traten auf, zwischen denen die Handlung vorfiel. Um dieses ganz allgemein zu machen, werden wir sagen: das Gedicht ist entweder fortgehende Rede Einer Person oder Gespräch zwischen mehrern Personen. Im ersten Falle hat wiederum die Person, welche spricht, entweder mit dem Publikum überhaupt zu thun, oder besonders, wie in der poetischen Epistel, mit einer bestimmten andern Person, an die sie die ganze Rede richtet, auf die sie immer vorzüglich Rücksicht nimmt.

Ein andrer Unterschied ist, daß man dem Gedichte entweder die Einrichtung giebt, wie es am bequemsten mit einer andern der Poesie verschwisterten Kunst, der Musik, kann verbunden werden, oder daß man das nicht thut. Aus der bloßen Erzehlung kann auf diese Art Romanze, aus dem bloßen Drama Oper werden. Freylich aber muß man dann die besondere Materie, die man zu so einer Erzehlung oder zu so einem Drama nimmt, so auswählen, daß die Verbindung mit der Musik nicht unschicklich sey.

Wir sehen schon, wenn wir die Sache nur ganz leicht überdenken, daß sich durch die beyden angegebenen Gründe der Eintheilung, Materie und Form, wenn wir die verschiedenen Glieder derselben mit einander verbinden, und hie und da noch etwas nähere Bestimmungen hinzuthun, alle uns bekannten Dichtungsarten werden erklären laßen, Satyre, Lied, Epigramm, Cantate, [24] Trauerspiel, Lustspiel, oder wie sie sonst Namen haben. Nur bey zwey Dichtungsarten möchten wir etwa zweifeln können, wo wir sie hinbringen sollten, bey der Fabel und der Idylle.

Denn wenn ohne eine allgemeine Lehre eine Fabel keine Fabel seyn kann, so scheint es ja, daß sie zur didaktischen Gattung gehöre? Und wenn wieder zu einer jeden Fabel nothwendig erfordert wird, daß uns darinn ein bestimmtes Faktum vorgetragen werde, so scheint es ja wieder, daß sie zu einer ganz andern Gattung zu zählen sey, zu der nehmlich, die beschreibt oder erzehlt? Sollten sich denn etwa mehrere Gattungen von Materie auf gewisse Weise verbinden laßen, so daß hie und da eine Mittelgattung entstünde?

Ferner, die Idylle; wenn in der alle Arten von Materie können behandelt, alle Formen können angebracht werden, wie uns das Geßner gezeigt hat: so scheint es ja, daß es noch einen dritten Grund der Eintheilung geben müsse, der von den bisher angeführten verschieden ist? – Wir wollen diese Fragen sogleich zu beantworten suchen, indem wir diese beyden Dichtungsarten nach einander besonders vornehmen.

 

 

 

 

Achtes Hauptstück.
Von dem lyrischen Gedicht.

 

Lyrisch heißt oft so viel als musikalisch, und bezieht sich dann auf die äussre Form eines Werks, auf die zum Gesange schickliche Einrichtung desselben. Lyrisches Schauspiel ist ein zum Singen eingerichtetes theatralisches Stück und gehört zu der pragmatischen Gattung. Was wir hier unter lyrischem Gedicht verstehen, ist eine eigene Dichtungsart, die sich von den bisher betrachteten nicht bloß durch äussre Form, sondern durch Inhalt und Materie unterscheidet.

Man hat der lyrischen Dichtungsarten mehrere: Ode, Lied, Elegie. Den Odendichter hält man für den vornehmsten, für den am meisten lyrischen Dichter: eben in der Ode also wird das Wesen dieser Dichtungsart am sichtbarsten hervorstechen müssen; und so wollen wir die Theorie derselben aus folgender Ramlerischen Ode zu entwickeln suchen:

         [278] Auf ein Geschütz.

    O du, dem glühend Eisen, donnernd Feuer
Aus ofnem Aetnaschlunde flammt,
Die frommen Dichter zu zerschmettern, Ungeheuer,
Das aus der Hölle stammt!

    Wer zur Verheerung blühender Geschlechter
Dich an das Sonnenlicht gebracht,
Hat ohne Reue seine Mutter, seine Töchter
Frohlockend umgebracht.

    Ganz nahe war ich schon dem Styx, ganz nahe
Dem Giftgeschwollnen Cerberus:
Ich hörte schon das Rad Ixions rasseln, sahe
Die Brut des Danaus,

    Verdammt zum Spott bey bodenlosen Fäßern,
Und Minos Antlitz und das Feld
Elysiens: den großen Ahnherrn eines größern
Urenkels und sein Zelt

    Voll tapfrer Brennen sah ich: ihre Lieder,
Ihr Fest bey jedem Freudenmal
Ist Er, der wider sechs Monarchen ficht und wider
Satrapen ohne Zahl.

    Schon säng ich seine jüngste That, wie brausend
Ein Meer von Feinden ihn umfing,
Er aber seinen Weg hindurch auf zehen tausend
Zertretnen Schedeln ging.

    Alcäus würde jetzt mein Lied beneiden;
Schon säh ich Cäsarn lauschend nahn,
Mit ihm den weisen Antonin und den von beyden
Gefeyrten Julian.

    [279] Allein Merkur stand neben mir und wandte
Durch seinen wunderbaren Stab
Den Ball, der mich ins Reich der Nacht zu schleudern brannte,
Von meinen Schläfen ab.

    Denn ich soll noch die Laute stärker schlagen,
Wann er durch Weyhrauchwolken zeucht,
Die Kriegesfurie gefesselt an dem Wagen
Des Ueberwinders keucht;

    Wann er, auf einem Throne von Trophäen,
Rund um sich her der Künste Kranz,
Und wir im Musentempel seine Siege sehen,
Versteckt in Spiel und Tanz;

    Wann er, ein Gott Osir! Durch unsre Fluren
Im seligsten Triumphe fährt,
Indeß der Ueberfluß auf jede seiner Spuren
Ein ganzes Füllhorn leert.

Wir sehen sehr bald, daß dieses Stück einen ganz andern Charakter hat, als alle, die wir bisher haben kennen lernen. Der beschreibende, der pragmatische, der didaktische Dichter, jeder hatte seinen eigenen Vorsatz, aus dem wir die ganze Composition seines Werkes begreifen konnten. Der beschreibende ging einen gewissen Gegenstand nach seinen Theilen oder Merkmalen durch; der pragmatische gab seinen Personen Absichten, deren Erreichung sie in Thätigkeit setzte; und war das Werk erzehlend, so äusserte er noch ganz deutlich den eigenen Vorsatz, uns die ganze Ent[280]stehung einer Begebenheit aus ihren moralischen und den concurrirenden äussern Ursachen begreiflich zu machen. Der didaktische setzte sich zum Zweck, eine gewisse Erkenntnis zum Anschauen zu bringen, eine ihm wichtige Wahrheit zu lehren, zu beweisen, wider Einwürfe zu retten. Durch diese Absichten war der Ideengang aller dieser Dichter, so viel Raum ihnen auch noch übrig bleiben mogte, doch immer zwischen gewisse Grenzen eingeschränkt; sie durften ihr Ziel nie gänzlich aus den Augen verlieren und auf gut Glück umherschwärmen, oder der Charakter ihrer Dichtungsart ging verloren. Welcher Zweck ist nun noch für den lyrischen Dichter übrig? Welchen finden wir in dem obigen Beyspiel erreicht? – Der Dichter war so eben einer großen Gefahr entgangen; er hat sich in so weit von seinem Schrecken erholt, daß er über die Ursache derselben nachdenken kann; sein Schrecken wird im ersten heftigsten Augenblicke zur Wut gegen das unschuldige Werkzeug; im zweyten zur Wut gegen den Werkmeister, der es hervorbrachte: und nun, nach Befriedigung dieses dringendsten Triebes in seinem von Leidenschaft angeschwellten Herzen, erwägt er erst die ganze Größe der Gefahr, der er entging. Da seine Phantasie von den Werken und Ideen der alten Dichter so ganz erfüllt ist, so erwachen in ihr die Bilder der Unterwelt, der im Tartarus bestraften Verbrecher, der in Elysium belohnten Tugendhaften. Und da die herrschende Idee seiner Seele, die [281] ihn nie verläßt, sein König ist, so denkt er unter den letztern keinen eher, als Friederich Wilhelm, den großen Ahnherrn des Königs: und kaum daß er ihn im Geist zu erblicken glaubt, so singt er ihm schon die letzte bewundernswürdige That seines Urenkels. Voll von dem Lobe seines Monarchen und von der Begierde, ihn noch künftig zu loben, hält er seine Rettung für ein Wunder; Merkur hat ihn erhalten, daß er nach glorreich geendigtem Kriege die Wohlthaten singe, die der Monarch im Frieden über sein Volk verbreiten wird. – In dieser ganzen Reyhe von Gedanken will der Dichter, wie es scheint, bloß seinem Herzen Luft machen; er will uns nicht den Vorfall erzehlen, nicht etwa das Geschütz beschreiben, nicht über die Begebenheit oder seinen Zustand philosophiren, sondern sich bloß seiner Empfindungen, so wie sie sich nach einander in seiner Seele entwickeln werden, entschütten. Das aber führt, wie man sieht, durchaus zu keinem bestimmten Ziele; der Dichter läuft aus, ohne, dem Ansehen nach, zu wissen, oder sich auch nur vorzusetzen, wo er ankommen will.

Aber irgend etwas muß doch seyn, das auch hier den Ideengang leitet; irgend ein Gesetz muß doch die Vorstellungskraft auf ihrem Gange befolgen: denn eine ganz regellos wirkende Kraft ist ein Unding. Und was für ein Gesetz wird denn hier Statt finden? – Den didaktischen Dichter führt die Vernunft von Grund zu Folge, von Folge zu Grund; den beschreibenden führt [282] die Betrachtung des Gegenstandes selbst von Theil zu Theil, von Erscheinung zu Erscheinung, von Merkmal zu Merkmal; den pragmatischen führen die Wünsche, die Begierden, die Leidenschaften, die er seinen Personen giebt, zu Absichten, die Absichten zu Mitteln: mithin herrscht auch hier die Vernunft; nur daß sie, mit weniger hellem Bewußtseyn, unter einem Gewühle verworrner Vorstellungen wirkt. Was führt nun aber den Odendichter? was überhaupt jeden lyrischen Dichter? – Ein nur flüchtiger Blick auf das gegebene Beyspiel zeigt uns sogleich, daß es die Phantasie ist, die ihn nach ihrem bekannten Gesetze leitet; daß bey ihm jeder Gedanke andere verwandte Gedanken weckt, und er immer unter dem Haufen nach demjenigen greift, der vermöge seiner eigenthümlichen Gemüthslage für ihn das meiste Interesse, den meisten Reiz hat.

Nunmehr wird es uns klar, was wir eigentlich dabey dachten, als wir dem lyrischen Dichter Empfindungen zum Stoff seiner Werke gaben. Jeder Dichter muß mit Empfindung, muß aus der Fülle des Herzens reden; kein anderer Ton ist wahrhaftig dichterisch: aber nicht jeder Dichter macht die Rührung der Seele zum Hauptwerk; vielmehr sehen alle übrigen vorzüglich auf die Ideen, welche die Rührung hervorbringen; der Ausdruck der letztern hängt sich nur an den Ausdruck der erstern: oder wenn zuweilen die Rührung herrscht, so führt doch der Vorsatz, den der Dichter gefaßt hat, ihn bald [283] wieder zu seinem eigentlichen Gegenstande zurück. Hingegen bey dem lyrischen Dichter ist die Rührung Alles; er will nur sein volles Herz entschütten; und so ist sein Werk, wenigstens dem Ansehen nach, weiter nichts, als Ausdruck des Zustandes, worinn seine Seele durch gewisse Eräugnisse, gewisse Ideen versetzt ist; diese Ideen selbst aber, oder diese Eräugnisse erfahren wir nur gelegentlich: ohne weitern Vorsatz, als sein volles Herz zu entschütten, geht er fort, wie das Interesse ihn führt, greift Wahrheiten, Bilder, Geschichten, alles was ihm vorkommt; doch ohne irgend etwas zum Hauptzweck zu machen, ohne sich, wie es scheint, durch irgend eine bestimmte Absicht fesseln zu lassen.

Zugleich hellt sich nun die ganze Eintheilung des Gedichts nach der Materie auf; wir erlangen von dem, was wir uns unter diesem Worte denken sollen, eine deutliche Vorstellung. Wenn jedes Gedicht eine lebhafte Ideenreyhe in Worten ist; so ist Materie das herrschende Gesetz dieser Reyhe *). Das herrschende; denn jede Reyhe kann alle andern entweder als Theile in sich befassen, oder sich mit ihnen als Formen vereinigen **): und was ein alter Weiser von [284] der ganzen Natur sagte, daß Alles in Allem sey, das läßt sich von den Werken der Dichtkunst vollkommen richtig sagen. – Werden die Ideen verbunden, so wie sie in einander gegründet sind; so sind die Gründe entweder allgemeine Ideen des Verstandes, und das Werk ist didaktisch, oder es sind individuelle Neigungen des Herzens, und das Werk ist pragmatisch. Beyde Dichtungsarten, wie sich schon im Vorigen gezeigt hat, stehen in genauer Verwandschaft. Werden die Ideen verbunden, so wie es die Theile in einem Ganzen, die Merkmale in einem Begriff sind, den der Verstand abstrahirt hat und den man jetzt als ein sinnliches aus mehrern Theilen bestehendes Ganze ansieht, oder werden sie verbunden, wie sie sich in ihrer Folge auf einander den Sinnen, dem Gedächtnisse darbieten; so ist das Werk beschreibend. Werden sie endlich verbunden, so wie sie, nach dem Gesetze der Phantasie, auf mannichfaltige Weise einander wecken; so ist das Werk lyrisch. Die Eintheilung hat ihre Vollständigkeit; denn es giebt keine mehrern Gesetze, nach welchen sich die Ideenreyhen in unsrer Seele bilden liessen; und die ganze Theorie der Dichtkunst hat also, in Ansehnung dieser Eintheilung, nur die Frage zu beantworten: wie man jeder dieser Ideenreyhen den höchsten möglichen Grad der Lebhaftigkeit gebe? –

Doch so befriedigend diese Eintheilung scheint; so fragt es sich noch: ob unser Begriff vom lyri[285]schen Gedicht nicht vielleicht zu enge oder zu weit oder gar beydes zugleich sey? Denn wie, wenn es Stücke gäbe, in denen zwar sichtbar der Phantasiegang herrschte, die man aber darum nicht lyrisch nennen könnte? Wie, wenn es andere Stücke gäbe, in denen man jenen Gang nicht fände, und die doch, nach aller Geständnis, lyrisch wären?

Zu der erstern Frage berechtigen uns so manche Scenen in Schauspielen, die nicht Theile der Handlung sind, und die man Conversationsscenen nennt: denn hier scheint das Gespräch bloß von der Phantasie geführt zu werden; man kommt von einem aufs andre; geräth bald für sich allein: bald durch den Mitunterredner, auf ganz verschiedne, von den ersten Gegenständen oft himmelweit entfernte Dinge. Man sehe nur folgendes Bruchstück einer solchen Scene aus Minna von Barnhelm.

    Franziska. Der Herr Officier, den wir vertrieben, und dem wir das Kompliment darüber machen lassen; er muß auch nicht die feinste Lebensart haben: sonst hätte er wohl um die Ehre können bitten lassen, uns seine Aufwartung machen zu dürfen. –

    Das Fräul. Es sind nicht alle Officiere Tellheims. Die Wahrheit zu sagen, ich ließ ihm das Kompliment auch bloß machen, um Gelegenheit zu haben, mich nach diesem bey ihm zu erkundigen. – Franziska, mein Herz sagt es mir, daß meine Reise glücklich seyn wird; daß ich ihn finden werde. –

    Franziska. Das Herz, gnädiges Fräulein? Man traue doch ja seinem Herzen nicht zu viel! Das Herz [286] redet uns gewaltig gern nach dem Maule. Wenn das Maul eben so geneigt wäre, nach dem Herzen zu reden, so wäre die Mode längst aufgekommen, die Mäuler unterm Schlosse zu tragen.

Das Fräul. Ha! ha! mit deinen Mäulern unterm Schlosse! die Mode wäre mir eben recht.

Franziska. Lieber die schönsten Zähne nicht gezeigt, als alle Augenblicke das Herz darüber springen lassen!

Das Fräul. Was? bist du so zurückhaltend?

Franziska. Nein, gnädiges Fräulein; sondern ich wollte es gern mehr seyn. Man spricht selten von der Tugend, die man hat; aber desto öfter von der, die uns fehlt.

Das Fräul. Siehst du, Franziska? da hast du eine sehr gute Anmerkung gemacht.

Franziska. Gemacht? Macht man das, was einem so einfällt?

Das Fräul. Und weißt du, warum ich eigentlich diese Anmerkung so gut finde? Sie hat viel Beziehung auf meinen Tellheim.

Franziska. Was hätte bey Ihnen auch nicht Beziehung auf den?

Das Fräul. Freund und Feind sagen, daß er der tapferste Mann von der Welt ist. Aber wer hat ihn von Tapferkeit jemals reden hören? Er hat das rechtschaffenste Herz; aber Rechtschaffenheit und Edelmuth sind Worte, die er nie auf die Zunge bringt.

Franziska. Von was für Tugenden spricht er denn?

Das Fräul. Er spricht von keiner; denn ihm fehlt keine.

Franziska. Das wollte ich nur hören.

[287] Das Fräul. Warte, Franziska; ich besinne mich. Er spricht sehr oft von Oekonomie. Im Vertrauen, Franziska; ich glaube, der Mann ist ein Verschwender.

Franziska. Noch eins, gnädiges Fräulein. Ich habe ihn auch sehr oft der Treue und Beständigkeit gegen Sie erwähnen hören. Wie, wenn der Herr auch ein Flattergeist wäre? u.s.w. *)

In dieser Stelle, so wie überhaupt in der ganzen Scene, aus der sie entlehnt ist, leitet freylich bloß die Phantasie das Gespräch; allein auf diese Phantasiereyhe selbst kam es dem Dichter durchaus nicht an: auch fällt nicht auf sie das Interesse des Lesers. Der Dichter wollte uns theils die Charaktere der hier auftretenden Personen kennen lehren, theils auch noch sonst einen Theil der Exposition seines Stoffs machen, damit wir die nachher unter den Personen vorfallende Handlung desto besser verstehen mögten. Das letztere rechnen wir dem Dichter nicht weiter an; das erstere, die Darstellung interessanter Charaktere, macht uns Vergnügen: und nur [288] als solche Darstellung, nur als beschreibendes Stück von einer ähnlichen Art, wie wir zu Ende des vorigen Hauptstücks kennen lernten, hat die Scene Interesse und Wirkung. So wie dort mehrere einzelne Handlungen, mehrere einzelne Raisonnements zusammengestellt wurden; nicht, daß wir an ihnen selbst unser vornehmstes Vergnügen finden, sondern daß wir die Züge eines Charakters aus ihnen abziehen und einen anschauenden Begriff von ihm erhalten sollten: so wird auch hier eine durch bloße Gemeinschaft der Merkmale verbundne Reyhe von Gedanken hingeworfen; nicht daß diese Reyhe selbst uns vorzüglich rühren, hinreissen soll, sondern daß wir die ganze Sinnesart, Kopf und Herz der unterredenden Personen, daraus kennen lernen. Wir haben also auch hier eine mittelbare Beschreibung, oder da dieß Wort hier wenig passend scheinen mögte, Schilderung; wir erkennen immer mehr, wie mannichfaltig sich die Materien mit einander mischen und unter wie vielerley Formen und Manieren des Vortrags der Dichter die Wahl hat.

Allein, worinn liegt es denn nun, daß in der Ode das Interesse mehr auf die Phantasiereyhe selbst, in der Scene des Lustspiels mehr auf den Charakter fiel, der sich darinn entwickelte? Wenn wir die Ursache hievon entdecken, so muß uns das zu einer nähern innigern Kenntniß von dem Wesen der Ode und des ganzen lyrischen Gedichts führen; und entdecken werden wir sie, [289] wenn wir die Stücke näher mit einander vergleichen.

Daß die Scene dialogirt und die Ode fortgehende Rede war, kann hier schwerlich den ganzen Unterschied machen; denn es finden sich ja auch dialogirte Oden: obgleich freylich die dialogische Form sich mit dem Wesen dieser Dichtungsart nur selten vertragen mag, weil wir sonst der Beyspiele mehr haben würden. Man sehe hier die berühmte dialogirte Ode des Horaz in einer deutschen Nachahmung.

                   Damis und Phyllis.

Damis. Als ich mir noch die süssen Küsse raubte,
      Die Phyllis mir jetzt unerwartet giebt;
      Da hab ich sie mehr, als ich selber glaubte,
      Mehr als mich selbst, hab ich sie da geliebt.

Phyllis. Als Damis Herz für mich zuerst entbrannte,
      War unser Glück dem Glück der Fürsten gleich;
      Als er mich noch sein braunes Mädchen nannte,
      Galt ihm mein Kuß mehr, als ein Königreich.

Damis. Ach! Hymen hat die Flamme längst ersticket;
      Nur Chloe setzt mein kaltes Herz in Brand.
      Seit Chloe mir im Tanz die Hand gedrücket,
      Empfind ich, was ich sonst für dich empfand.

Phyllis. Jetzt könnt ich mich an Thyrsis Lieb ergetzen,
      Der meinen Gram zu lindern längst begehrt.
      Ja, Thyrsis will mir Damis Lieb ersetzen;
      Und ach! sein Kuß wär einer Sünde werth.

[290] Damis. Wie, wenn mich schon die neue Liebe reute?
      Wie, wenn ich dir, die mich zuvor entzückt,
      Mein dankbar Herz allein auf ewig weyhte?
      Und Chloe säh, wie mich dein Bund beglückt?

Phyllis. Ich seh es oft in deinem satten Blicke,
      Daß in dein Herz ein kleiner Kaltsinn schleicht:
      Doch, wenn ich dich an meinen Busen drücke,
      So lebt für mich kein Jüngling, der dir gleicht.

                    Lyrische Blumenlese. 6tes Buch.

Diesem Beyspiele nach, wäre eine dialogirte Ode nur unter der Bedingung möglich: daß die unterredenden Personen von einer und der nehmlichen, oder doch sehr ähnlichen gegenseitigen Empfindung durchdrungen wären, und also jede ihre Empfindung ohngefähr eben so gegen die andre entwickelte, wie sie es für sich allein würde gethan haben. –

Doch dem sey, wie ihm wolle; so ist dieses lyrische Stück der obigen Ode in soferne ähnlich, daß Eine Empfindung, und eine solche, die für das Herz äusserst wichtig ist, das ganze Gedicht füllt; daß diese Empfindung sich der Personen gänzlich bemeistert, alle ihre Aufmerksamkeit an sich gezogen, alles übrige Interesse für diesen Augenblick aus ihrer Seele verbannt hat. In der Scene des Lustspiels war dieses anders: denn obgleich Minna die zärtlichste Liebe gegen Tellheim verräth, so ist sie doch füritzt in die Empfindung dieser Liebe nicht versenkt, nicht verloren; sie hängt an dem Gedanken von ihrem Liebhaber [291] nicht mit der Inbrunst, daß sie das, was um sie ist, nur wie im Traume sähe und hörte; vielmehr faßt sie augenblicklich, ohne Verwirrung und ohne Verdruß gestört zu seyn, jede andere Idee, die ihr von aussen gegeben wird; geht in jede verschiedenartige Empfindung mit Leichtigkeit und Besonnenheit über. Eben darum aber sind hier auch alle Ideen weniger lebhaft; der Ausdruck hat weniger Innigkeit, weniger Fülle, als wo sich die Seele mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit einer einzigen Empfindung hingiebt. In dem letztern Falle werden wir mit in die Empfindung hineingezogen; die Ideenreyhe selbst hat ihr volles poëtisches Interesse: in dem erstern Falle rührt uns das Bild der Person mehr als ihr Zustand; wir sind müßig genug, es aus den einzelnen zerstreuten Zügen in Gedanken zusammenzusetzen, und wir schätzen die Ideenreyhe vorzüglich nur in soferne, als dieses Bild hell und lebhaft daraus hervortritt.

Das also ist ein nothwendiges Erforderniß zum lyrischen Gedichte: daß für den Augenblick, wo der Dichter die Empfindung ausdruckt, die ganze Seele davon durchdrungen, erfüllt sey. Nur so hat die Phantasiereyhe, als solche, volle Lebhaftigkeit, volles poëtisches Interesse; im entgegengesetzten Falle hat sie entweder das einer andern Dichtungsart, oder sie hat keines; sie ist Geschwätz.

Allein es blieb uns oben noch eine zweyte Frage zu beantworten übrig; die nehmlich: ob [292] sich denn wirklich der Phantasiegang in jedem lyrischen Gedichte finden müsse? und ob es nicht lyrische Stücke geben könne, in denen das anders wäre? Zu diesem Zweifel ist wohl die erste und wichtigste Veranlassung: daß man in keine Gattung so viel Fremdes, als in die lyrische, hineingezogen. Jede lebhafte Schilderung, jede durch einzelne charakteristische Züge der Empfindung rührende oder durch Naivetät belustigende Erzehlung, die der Dichter in einem sehr theilnehmenden Tone und bestimmten Sylbenmaaß vorträgt; jede Reyhe von launigten Reflexionen oder Maximen, die oft durch wenig mehr als durch einerley Refrain verbunden sind; jede witzige Posse im Sylbenmaaße des Liedes heißt ein lyrisches Stück, und so kam denn auch folgendes, welches im Grunde nichts als eine Reyhe von Epigrammen ist, in die lyrische Blumenlese:

                   Erklärungen.

    Seht, Freunde, Staxens Kleid von Gold und Silber blitzen.
Ho! ho!
Doch, Freunde, seht ihn auch dereinst im Schuldthurm sitzen.
So! so!

    Narr Kleon schreibt und wird von aller Welt erhoben.
Ho! ho!
Die Welt denkt ja wie er; drum muß die Welt ihn loben.
So! so!

    [293] Kein junger Amadis kann Julchens Herz besiegen.
Ho! ho!
Denn keiner nahm sich noch die Müh, es zu bekriegen.
So! so!

    Lisette pflegt sich oft zum Beten einzuschliessen.
Ho! ho!
Doch betet insgemein Amynt zu ihren Füßen.
So! so!

                                Aus dem vierten Buche.

Eine so weite Bedeutung aber kann man dem Worte lyrisch nicht lassen, oder man muß auf bestimmte, deutliche Begriffe Verzicht thun. Die Bürgerische Romanze, die wir im vorigen Hauptstück untersuchten, war kein lyrisches; sie war ein pragmatisches Stück.

Eine zweyte Veranlassung zu dem obigen Zweifel kann daher entstehen, weil die Phantasie nicht immer einen so kühnen, raschen, regellosen Gang, wie in heftigen, stürmischen, die Seele schwellenden Leidenschaften, geht: denn wo die Empfindungen sanfter, weicher, wo sie traurig und niederschlagend sind; da ist der Schritt der Phantasie oft so gehalten, so eben, als ob man wirklich von einem bestimmten Vorsatz nach einem festen Ziel hin geleitet würde. So nährt und befriedigt sich der Kummer an einem Grabmal, durch Wiedererweckung des reizenden Bildes der Geliebten, durch Zurückerinnerung an jede frohe, zärtliche, mit ihr verlebte Stunde; das herrschen[294]de Interesse führt von den kleinen Abschweifungen sogleich wieder auf die geliebte Idee der Person und ihres Lebens zurück: das Werk geht von der Empfindung aus, und wird, wie von selbst, zur Beschreibung oder Erzehlung. – Ramler hat gewiß in seiner so naiven, dem Catull so glücklich nachgeahmten, Nänie von den Verdiensten der todten Wachtel keine Beschreibung machen wollen; das Stück sollte nichts als Ausdruck des Schmerzes über den Verlust des kleinen lieben Lieblings werden; allein dieser Ausdruck selbst führte die Phantasie ganz natürlich in die Beschreibung hinein.

    Weint, ihr Kinder der Freude! Weine, Jokus!
Weine, Phantasus! Alle des Gesanges
Töchter, alle des jungen Frühlings Brüder,
Sirenetten und Zephyretten, weinet!
Ach! die Wachtel ist todt! Naidens Wachtel!
Die so gern in Naidens hohler Hand saß,
Und, gestreichelt von ihrer Rechten, achtmal
Ihren Silberschlag so hellgellend anschlug,
Daß das purpurbemalte Porzellan klang.
Wenn das Mädchen zu singen und zu spielen
Anhub, lauschte sie still und nickte freundlich.
Wenn das Mädchen zu singen und zu spielen
Abließ, hüpfte die kleine Liederfreundinn
Auf die Laute des Mädchens, lockte horchend
In die Laute, daß alle sieben Saiten,
Bauch und Boden der Laute wiedertönten.
Wenn das Mädchen versenkt in Traum und stumm saß,
[295] Flog die Gauklerinn dem Pagoden Lama
Auf den Wackelkopf, wiegte mit dem Kopfe
Des Pagoden sich weidlich hin und wieder.
Ach! kein Vogel war diesem gleich! der Juno
Vogel nicht, der nur schön war; auch der Pallas
Vogel nicht, der nur klug war und nicht scherzte.
Unser Vogel war schön und klug. Naide
Scherzt' und kosete gern mit unserm Vogel,
Und der Vogel verstand Naiden, gab ihr
Nickend Antwort, schlug an, so bald sie winkte,
Ging und kam auf ihr Wort, und saß ihr rüstig
Auf der Schulter und ließ sich küssen, ließ sich
Aus den Lippen der trauten Wirthinn ätzen.
                                        u.s.w.

Noch eine dritte Veranlassung zu unsrer Frage konnten die Versuche der Dichter seyn, Oden auf Handlungen zu bauen, ihnen Handlungen unterzulegen. Sie verschweigen alsdann die Geschichte, heben nur die Ausdrücke der Empfindungen heraus, die während des Verlaufs derselben bey den Personen veranlaßt werden, und lassen die veranlassenden Umstände selbst von dem Leser errathen. Allein, da nun doch der Leser sich selbst die Erzehlung machen muß, die der Dichter nicht macht; da die Situation, aus welcher die Empfindungen hervorspringen, seine Aufmerksamkeit doch immer am meisten an sich zieht, und da nur allzuleicht die Einsicht in den ganzen Verlauf der Handlung schwierig und dunkel wird: so ist die Idee einer solchen Verbindung der pragmatischen mit der lyrischen Dichtungsart nicht die glücklichste, und der Dichter hätte besser gethan, [296] statt der Ode eine Erzehlung, allenfalls im Sylbenmaße des Liedes, zu machen. Vielleicht findet man diese Anmerkung auch durch folgenden Versuch unsers Ramlers eher bestättigt, als widerlegt.

          Amynt und Chloe.

    Ich bins, o Chloe! Fleuch nicht mit nacktem Fuß
Durch diese Dornen! fleuch nicht den frommen Amynt!
Hier ist dein Kranz, hier ist dein Gürtel!
Komm! Bade sicher! ich stöhre dich nicht.

    Sieh her! ich eile zurück und hänge den Raub
An diesen Weidenbaum auf. – Ach! stürze doch nicht!
Es folgt dir ja kein wilder Satyr,
Kein ungezähmter Cyklope dir nach. –

    Dich, schlankes, flüchtiges Reh, dich hab ich erhascht!
Nun widerstrebe nicht mehr! nimm Gürtel und Kranz,
Und weyhe sie der strengen Göttinn,
An deren ödem Altare du dienst.

Endlich kann ein lyrisches Gedicht nur Einen Gedanken enthalten, der nicht weiter verfolgt wird; vielleicht, weil die Empfindung so mächtig ist, daß sie nur diesen Einen kurzen Ausbruch verstattet, oder weil sie sich gleich Anfangs um so viel abschwächt, daß der Dichter sinken würde. Allein sie ist denn doch immer Anfang einer innerlich fortlaufenden Phantasiereyhe: und so verschwindet auch dieser letzte Zweifel gegen die Richtigkeit der [297] festgesetzten Erklärung. Zum Beyspiel einer solchen kurzen Ode mag folgende dienen.

                    An Cidli.

    Cidli, du weinest, und ich schlummre sicher,
Wo im Sande der Weg verzogen fortschleicht;
Auch wenn stille Nacht ihn umschattend decket,
Schlummr' ich ihn sicher.

    Wo er sich endet, wo ein Strom das Meer wird,
Gleit' ich über den Strom, der sanfter aufschwillt;
Denn, der mich begleitet, der Gott gebots ihm!
Weine nicht, Cidli!

                                        Klopstock.

Das hier gewählte Beyspiel führt uns sogleich auf die erste Regel, die der lyrische Dichter in Ansehung des Gegenstandes zu beobachten hat, welcher die Empfindung veranlaßt. Der Leser muß nothwendig diesen Gegenstand kennen, wenn er die Empfindung theilen soll; denn ohne Einsicht des Grundes kann das Herz sich eben so wenig interessiren, als der Verstand Beyfall geben. Also muß der Dichter, wo er den Gegenstand nicht als bekannt voraussetzen darf, die Veranlassung seines Gedichts, selbst im Ausdrucke seiner Empfindung, angeben; doch freylich so, daß er es nicht zu wollen scheine. – Ein besondrer Kunstgriff, diese Exposition zu machen, ist der, daß er die kurze Erzehlung der Veranlassung in seinem eigenen Namen voranschickt, und dann das Ge[298]dicht selbst einem Andern in den Mund legt; wie das Ramler in Glaukus Wahrsagung thut:

    Als Ludewigs Pilot mit stolzer Flotte
Westgalliens beschäumtes Thor
Verließ, hub Glaukus aus der tiefen Felsengrotte
Sein blaues Haupt empor:

    "Unglücklicher! u.s.w.

nur daß freylich der ganze Plan dieser Ode noch einen Grund mehr zu dieser Einrichtung enthält.

Die übrigen Regeln des lyrischen Gedichts lassen sich aus der Erklärung desselben leichtlich ableiten. – Die Ideen müssen immer über den Dichter, nie der Dichter über die Ideen herrschen; sobald er zur Besonnenheit erwacht, hat sein Gesang ein Ende; eine Art Schluß, die Uz gebraucht hat. Das Natternheer der Zwietracht, sagt er:

    – – – zischt uns ums Ohr,
Die deutschen Herzen zu vergiften,
Und wird, kommt ihr kein Herrmann vor,
In Hermanns Vaterland ein schmählich Denkmal stiften.

    Doch mein Gesang wagt allzuviel.
O Muse, fleuch zu diesen Zeiten
Alkäens kriegrisch Saitenspiel,
Das die Tyrannen schalt, und scherz' auf sanftern Saiten!

[299] Wo also die Phantasie auf Abschweifungen führt, da muß es nie sichtbare Rücksicht auf Plan, sondern bloß die Stärke der in der Seele herrschenden Hauptempfindung seyn, was den Dichter auf seinen ersten Weg zurückbringt. Beyspiele von solchen Abschweifungen und von der wahren lyrischen Art, wieder einzulenken, giebt der Anfang der Ramlerschen Ode auf Rode.

    Der du dem blutenden Cäsar beym Dolche des Freundes in Purpur
Das Antlitz hüllest, das den Mörder liebreich straft;
Philipps Sohn zu des schnöde gefesselten Königes Leichnam
Voll Wehmuth hinführst; Ilions laut ächzenden
Priester mit Drachen umwindest, o Rode, Melpomenens Maler!
Verlaß die keusche Großmuth deines Scipio,
Deines Koriolans gefahrenvollen Gehorsam;
Verlaß der Brennusfürsten stolze Reyhe jetzt,
Von dem Fahnen-Eroberer Albert-Achill bis zu Willhelms
Erhabnem Schatten, Willhelms, der durch Schnee, durch Eis,
Wie der Sturmwind, sein Heer auf die flüchtige Ferse des Feindes
Und seinen feigen Nacken stürzt – und sage mir:
Welche Gottheit dir Feuer zu deinen Schöpfungen eingoß,
Und diese kalte Sanftmuth, eiteln Aberwitz
Still zu dulden, den Neid u.s.w.

[300] Hat sich die Phantasie von ihrem Hauptgegenstande so weit verloren, daß keine Rückkehr zu demselben anders, als durch Besonnenheit, mehr Statt finden würde; so schließt das Gedicht. Dergleichen Schlüsse finden sich da am häufigsten, wo die Phantasie einen sehr lebhaften Anstoß erhalten hat; sey es durch das ausserordentliche Interesse des Gegenstandes, oder durch ihr eignes mehr orientalisches Feuer. Der Psalmist giebt Beyspiele davon. Man sehe den

          133sten Psalm.

    Siehe! wie fein und lieblich ists, daß Brüder
einträchtig bey einander wohnen. Wie der köstliche
Balsam ist, der vom Haupte Aaron herabfleußt in
seinen ganzen Bart, der herabfleußt in sein Kleid.
Wie der Thau, der vom Hermon herabfällt auf die
Berge Zion; denn daselbst verheißt der Herr Segen
und Leben immer und ewiglich.
                                            Luther.

Ein vortrefliches Beyspiel giebt noch der 126ste Psalm und mehrere andere. – Ausschweifungen von der eigentlichen Hauptidee sind in jedem leidenschaftlichen Zustande der Seele natürlich; besonders da, wo der Gegenstand sie erhebt, sie erweitert; immer will die Phantasie ins Freye, ins Weite: und so hat bey andern Dichtern der Vorsatz, bey dem lyrischen das Hauptinteresse, beständig daran zu arbeiten, daß die Phantasie eingeschränkt und zurückgeholt werde. Dieß ist [301] der Ursprung der oft so großen, aus so vielen und mancherley Gliedern zusammengeflochtenen, Perioden des Odendichters, des epischen, des didaktischen Dichters, des Redners. Einen der schönsten Perioden dieser Art haben wir S. 184 folg. gesehen.

So sehr es wider die Natur des lyrischen Gedichts wäre, irgend eine bestimmte Absicht zu verrathen; so kann doch der Dichter in der That eine Absicht hegen, wenn er sie nur verbirgt, und oft wird er sie eben dadurch, daß er sie verbirgt, desto glücklicher erreichen. Eine solche hinter der <Phantasiereyhe> versteckte Absicht nennt man den Plan einer Ode. In der Ode auf das Geschütz war der Plan: die Verherrlichung des Königs, nicht bloß als siegreichen Helden, sondern auch als großen Regenten im Frieden. Auf die Anlage eines solchen Plans, oder auf die Art und Weise, wie mitten in dem scheinbar freyen Laufe der Phantasie eine bestimmte Absicht heimlich erreicht wird, beruht hauptsächlich das Verdienst der Neuheit und Eigenheit einer Ode. – Es wäre vielleicht ein schönes, empfindungsvolles, aber doch im Ganzen immer nur gemeines Stück geworden, wenn Horaz den nach Griechenland reisenden Virgil bloß mit seinen guten Wünschen und einem feurigen Gebet an die Götter hätte begleiten wollen. Virgil würde seinen Freund Horaz allerdings darinn erkannt haben; aber wie vielmehr muß er ihn noch in der Betrachtung erkennen, die der Dichter, sogleich nach der [302] ersten Anrede an das Schiff, in einem so bittern aufgebrachten Tone über die Verwegenheit des ersten Erfinders der Schiffarth, und überhaupt des ganzen menschlichen Geschlechts, anstellt. So sehr dieses Abschweifung scheint; so sehr ist es der Absicht gemäß; so äusserst freundschaftlich und verbindlich ist es, und so sehr beschäftigt es mit dem Herzen zugleich den Verstand, der hier so unerwartet auf einen so eignen und doch so richtigen Zusammenhang der Empfindungen geführt wird.

Die Verbindung zwischen der Anrede und der Betrachtung, geschieht in der eben erwähnten Horazischen Ode durch einen Sprung, der nicht wenig unerwartet und rasch ist. – Sprünge entstehen in einer Ideenreyhe, wenn verbindende Mittelideen überhüpft, verschlungen werden; so, daß der Leser selbst sie ergänzen muß, um den Zusammenhang zu erkennen. Solche Sprünge kommen, wie wir schon im fünften Hauptstück gesehen, in jeder poetischen Schreibart vor; denn sie sind in dem Grundgesetz der Lebhaftigkeit gegründet, welches die Ideen, so viel die Deutlichkeit es erlaubt, zusammen zu drängen befiehlt. Vorzüglich aber sind dem lyrischen Dichter die Sprünge eigen; eben weil dieser, so frey und ungefesselt, bloß den Gang der Phantasie geht, durch keine Rücksicht auf Plan sich einschränken läßt, und bey der lebhaftern Bewegung seines Gemüths jeden Augenblick tiefer in die Ideenreyhe hineinblickt. Er greift dann oft gerade [303] das Entfernteste, wenn, vermöge der Beschaffenheit seiner Gemüthslage, ihm dieses Entfernteste auch das Interessanteste wird. Doch muß auch bey ihm die Verbindung noch immer können nachgefunden werden; die Ideen müssen nicht, wie vom Sturmwinde zusammengetrieben, sondern wie von einem gesunden, nur sehr lebhaften, Kopfe zusammengedacht erscheinen. Die Wörter: Wuth, Trunkenheit, Raserey, mit denen man den Zustand des Odendichters zu charakterisiren pflegt, sind Metaphern, aus denen man nicht Ernst machen, sondern sich immer der Utzischen Anrede an die Muse erinnern muß:

O Muse, fleug mir vor;
Du, deren freyer Flug oft irrt, nie sich verirret!

So, wie die Sprünge, so sind auch überhaupt Gedrängtheit, Innigkeit, Fülle des Tons dem lyrischen Dichter vor allen andern eigen; aus dem sehr begreiflichen Grunde: weil er so ganz in seinen Gegenstand vertieft ist; weil er mit seiner ganzen ungetheilten, von jeder Rücksicht auf Plan und Entzweck unzerstreuten, Seelenkraft seine Ideen bearbeitet. – In welchem Grade er soll begeistert werden, wie hoch er seinen Ton spannen, oder wie tief er ihn herabstimmen soll; das läßt sich zwar nie aus der Natur des Gegenstandes allein bestimmen: aber es giebt gleichwol Ueberspannungen des Tons, die auch da, wo man das wärmste Herz und die feurigste Phantasie voraussetzt, noch Ueberspannungen blei[304]ben. Gesunde Köpfe können von jedem gegebenen Gegenstande nur bis auf einen gewissen Grad, und von andern, die mit den Neigungen des Herzens durchaus in keinem Zusammenhange stehen, ganz und gar nicht gerührt werden. Dürre, wissenschaftliche Abstraktionen zu personificiren, und sich dann bis zur Begeisterung von ihnen hingerissen zeigen, ist ein Einfall, der sich durch kein ausserordentliches Feuer der Einbildungskraft, keine besondere Eigenheit des Genies entschuldigen läßt: denn wäre nicht offenbar die Begeisterung gemacht und erkünstelt, so würde eine so seltsame Eigenheit eher Mitleiden als Bewunderung verdienen.

Das Feuer des Tons, wovon wir hier reden, kann ausser den oben schon angegebenen, eine neue Veranlassung zum Schluß der Ode werden. Der Dichter schließt nehmlich, wenn die Empfindung bey ihm so hoch schwillt, daß er nichts mehr sagen kann, oder doch wenigstens nichts, was nach den großen Ideen, auf die er gerathen ist, noch gesagt zu werden verdiente. Daher oft der Schluß mit dem stärksten, reichsten, erhabensten Gedanken, wie in der obigen Ode auf ein Geschütz von Ramler. Der Dichter kehrt hier in den Zustand des stummen Anstaunens zurück, der vor der Ode vorherging, oder mit dem auch die Ode hätte anfangen können.

Der Anfang einer Ode nehmlich ist da, wo die Seele eines Gegenstandes so voll wird, daß die Empfindung sie übermannt; oft auch, wenn [305] der Gegenstand sie überrascht hat, schon mitten in der Verwirrung, wo der Affekt noch Worte sucht. Daher der so häufig gebrauchte, aber auch durch Gebrauch schon abgenutzte Anfang: Wo bin ich? Wie ist mir? den die lyrischen Dichter auf so mancherley Art haben zu variiren gewußt;

Wohin wird mein Gesang verschlagen?

                                        Uz.

Wohin, wohin reißt ungewohnte Wuth
Mich auf der Ode kühnen Flügeln,
Fern von der leisen Fluth
Am niedern Helikon und jenen Lorbeerhügeln?

                                        Ebenders.

imgleichen die noch so allgemeinen, nichts Bestimmtes sagenden Redensarten: Ich will singen; ich thue meinen Mund auf; ich fühle den Gott im Busen, u.s.w. Insgemein redet dann auch der Dichter in einem sehr stolzen zuversichtlichen Tone von sich selbst und dem Werke, das er hervorbringen wird.

    Ich fliehe stolz der Sterblichen Revier;
Ich eil' in unbeflogne Höhen.
Wie keuchet hinter mir
Der Vogel Jupiters, beschämt mir nachzusehen!

                                        Uz.

    Mit sonnenrothem Angesichte
Flieg' ich zur Gottheit auf. Ein Strahl von ihrem Lichte
[306] Glänzt auf mein Saitenspiel, das nie erhabner klang.
Durch welche Töne wälzt mein heiliger Gesang,
Wie eine Fluth von furchtbarn Klippen,
Sich strömend fort und braust von meinen Lippen!

                                        Ebenders.

Eine so stolze, die Erwartung so hoch spannende, Ankündigung dürfte kein anderer Dichter wagen; dem lyrischen wird sie, wegen der Gemüthsfassung, die man bey seinem Werke voraussetzt, verziehen; ja, es wird ihm sogar verziehen, wenn er die Erwartung ganz und gar nicht befriedigt, sondern nach der Ankündigung aufhört. Dieß geschieht da, wo er sich seinen Gegenstand so groß denkt und sich selbst so trunken zeigt, daß er, nach der Ankündigung seines Vorsatzes, wenn er ihn nun ausführen soll, in stummes Bewundern und Anstaunen zurücksinkt. So Horaz in der 25sten Ode des dritten Buchs, wo eben das Nichtsingen des August, dessen Lob er so prächtig ankündigt, die feinste und ausgesuchteste Schmeicheley ist.

Wir haben vorhin von Feuer des Tons gesprochen: es versteht sich, daß dieses Feuer, nach Verschiedenheit des Gegenstandes und der auszudruckenden Empfindung, seine mannichfaltigen Grade hat, wo es oft kein Feuer mehr genannt werden kann. Denn einmal bezeichnet man doch mit diesem Worte nur die höhern Grade der Wärme, wo die Seele inniger, stärker erschüttert ist, und mit weitern, kühnern Schritten [307] durch die Ideenreyhe forteilt. Die Hauptpflicht des lyrischen Dichters wird seyn: daß er die ganze Natur jeder Art von Empfindung, mit allen ihren Mischungen, Uebergängen in verwandte Empfindungen, Ursachen ihres Wachsthums und ihrer Abnahme, die ganze Art, wie jede die Seele stimmt und modificirt, sorgfältig erforsche: denn nur so wird er überall richtig, originell, in seinen Plänen bedeutend seyn; nur so die Sprache, der durch sie auszudrückenden Empfindung, nach der jedesmaligen Natur, dem jedesmaligen Grade derselben, völlig anschmiegen. Bey dem, was wir hier Sprache nennen, bey der ganzen wörtlichen Bezeichnung der Ideen, kommt es auf zweyerley an: zuerst auf die Wahl der Wörter, Bilder, Redensarten, nach der ganzen genauern Bestimmung ihrer Bedeutung, da sie bald mehr bald weniger sagen, bald höher bald niedriger, bald edler bald gemeiner sind, bald auf solche bald auf andere Nebenideen führen; auf die Art ihrer Verbindung und Zusammenstellung in einzelnen Sätzen und ganzen Perioden, da sie anders und anders verflochten, mehr oder weniger zusammengedrängt, einige mehr ins Licht gerückt, andre mehr im Schatten gehalten werden; auf den richtigen Gebrauch der Figuren, von denen S. 93 die Rede war; mit einem Worte: auf das, was man, im engern Sinne des Worts, Sprache, Diktion nennt; und dann zweytens auf das Mechanische, oder auf das, was bey der Rede den äus[308]sern Sinn rührt, auf den Klang und den Rhythmus. Wie wichtig dieses Mechanische zur Verstärkung der Lebhaftigkeit der Ideen sey, ist schon oft erinnert worden; wie ausnehmend wichtig die Diktion sey, muß ein jeder ohne Beweis empfinden, der den Eindruck eines Werks, wo alle einzelnen Wörter, Redensarten, Wendungen, Bilder, Figuren, sorgfältig nach der jetzigen Seelenbewegung, dem Maaß der jetzt erforderlichen Kraft des Gedankens gewählt sind, mit dem Eindrucke eines andern vergleicht, dessen Sprache unangemessen, ungleich, bald zu hoch bald zu niedrig, bald zu stark bald zu matt, bald zu gedrängt bald zu weitschweifig ist. Dergleichen Fehler der Sprache können oft, jeder an sich, nicht von der größten Wichtigkeit seyn; aber eine zu große Menge solcher Fehler wird jedem Dichter an seinem Werke Vieles, dem lyrischen Alles verderben, weil bey diesem das ganze Interesse auf der Empfindung, auf der Art und Weise ruht, wie er gerührt ist, und weil der Ausdruck, die Mittheilung dieser Rührung von Sprache, von Mechanismus der Sprache so vorzüglich abhängt. Keinem Dichter raubt daher auch der beste Uebersetzer in fremde Sprachen so viel, als dem lyrischen Dichter.

Ueber das Charakteristische der verschiedenen Füße und Sylbenmaaße werden bey Lesung des Horaz Betrachtungen angestellt, und dort sind sie ohne Zweifel an ihrem rechten Orte. Nur die den verschiedenen lyrischen Dichtungsarten [309] eigenthümlichen Sylbenmaaße sollten wir hier freylich noch zu bestimmen suchen; aber dazu müßten wir nothwendig von jenen Dichtungsarten erst deutliche Begriffe haben. Es scheint, daß man die ganze Eintheilung in Ode, Lied, Elegie bloß auf die verschiedne Einrichtung des Mechanischen gebaut: und da diese Einrichtung in gewisser Absicht noch immer willkührlich bleibt, da auch nicht immer das Mechanische nach der größten Schicklichkeit und Uebereinstimmung mit dem Inhalt gewählt wird; so kann man leicht abnehmen, wie schwankend und unbestimmt, in Ansehnung der innern Merkmale, die Begriffe haben bleiben müssen. Dennoch findet sich in dem Mechanischen bey Ode und Elegie etwas Eignes, wodurch sich beyde von dem Liede unterscheiden: und wenn wir dieses Eigne entwickeln, so werden wir dadurch vielleicht dem wahren Wesen der angegebenen drey Dichtungsarten näher kommen. Da wir einmal aus dem Innern das Mechanische nicht bestimmen können; so wollen wir umgekehrt aus dem Mechanischen das Innre zu finden suchen.

Neuere Odendichter, wie z.B. unter den Deutschen Klopstock, Denis etc., haben das Eigne: daß sie sich zuweilen eine Mischung mehrerer Zeilenmaße erlauben, und sich an keine bestimmten Strophen binden. Andere, wenn sie auch in Sylbenmaß und Strophenbau Einförmigkeit beobachten, pflegen doch, wie Horaz und Ramler, die Abschnitte mannichfaltig zu [310] versetzen, und Zeilen und Strophen so in einander hinüber zu schlingen, daß man ihre regelmässige Gleichheit oft kaum gewahr wird. Man sieht ganz deutlich, daß bey ihnen diese Freyheit nicht Nachlässigkeit, daß sie mit Fleiß gesuchte und bedeutende Schönheit ist. In Liedern hingegen wäre eine solche Freyheit wahre Nachlässigkeit, wahrer Flecken. In diesen erwartet man weit mehr Einförmigkeit in Beobachtung der Abschnitte; man erlaubt weniger Verschlingung der Zeilen, weniger Verflechtung der Perioden; mit dem Schluß jeder Strophe, will man, daß der Gedanke vollendet, die Periode geschlossen sey. – Ferner liebt der Odendichter die vollern, tönendern, prächtigern Sylbenmaße, die den Mund mehr füllen, den Athem mehr anstrengen; auch die aus mancherley Füßen zusammengesetzten, die weniger bestimmten, die sich wie der Hexameter mannichfaltig ausbilden lassen: so, daß er auch hier sich Freyheit zu mehr Abwechselungen des Tons läßt. Der Liederdichter liebt dagegen die leichtern, fliessendern, kürzern, bestimmtern Sylbenmaße, die aus lauter gleichförmigen Füßen, Jamben, Trochäen, Daktylen bestehen. Oder wenn er einst unbestimmtre Sylbenmaße wählt; so ist es bey ihm ein Verdienst, was bey dem Odendichter keines ist, die Füße darinn durchgängig nach Einer Regel zu mischen; so wie Uz in seinem so wohlklingenden Stücke: der Frühling gethan hat, welches zwar freylich noch eher Ode als Lied ist. – Der elegische Dichter un[311]terscheidet sich von beyden, von Oden- und Liederdichtern dadurch: daß er in seinen Sylbenmaßen am einförmigsten ist, keine Strophen baut, nur mit zweyerley verschiednen Zeilen wechselt; bey den Alten mit Hexameter und Pentameter, bey den Neuern insgemein mit dem männlichen und weiblichen Alexandriner oder Trochäen. Ein deutscher Dichter charakterisirt die Elegie durch folgende Züge:

    Ich sah die Elegie hellglänzend vor mir stehn.
Ihr Hals war regellos mit Locken überdecket.
    Ihr Auge war verweint, doch auch verweint noch schön.
Viel träge Weichlichkeit verrieth der Bau der Glieder.
    Ein schleppendes Gewand, das ohne Reichthum war,
Umfloß die volle Brust, stieg mit ihr auf und nieder,
    Und seine Länge barg der Fersen ungleich Paar.

                                        Nicolai.

So, wie das Mechanische, so auch in den verschiedenen Dichtungsarten die Diktion; der Odendichter liebt meistens die edelsten, prächtigsten, seltensten Wörter; er holt aus dem Sprachschatz längstvergeßne Ausdrücke wieder hervor, die bey dem Reiz der Neuheit, da sie so lange nicht mehr erschienen, das Ehrwürdige des Alterthums haben; er wagt eigne, oft ungewohnte Zusammensetzungen von Wörtern, zufrieden, wenn nur irgend eine bekannte Analogie der Sprache sie rechtfertigt; er schmückt seinen Ausdruck mit [312] neuen, kühnen, unerwarteten Bildern. In Liederdichtern findet man alle diese Freyheiten weit weniger; sie lieben bedeutende, aber nicht fremde Wörter; gewählte, aber nicht ungewöhnliche, auffallende Redensarten und Verbindungen; Bilder, aber nicht zu kühne, prächtige Bilder. In Elegieen vollends nähert sich die Diktion schon weit mehr der Prose; sie ist weit weniger stark, gedrängt, geschmückt; enthält sich aller raschern Wendungen, aller glänzendern Sprach- und Sachfiguren.

Vorausgesetzt nun, das Mechanische wäre der Diktion, beydes wäre dem Inhalt, der Natur der ausgedruckten Empfindung überall völlig angemessen: worauf würde, schon nach dem Mechanischen, das Wesen der drey Dichtungsarten beruhen? – Da, unsrer Erklärung nach, das Wesen jedes lyrischen Gedichts überhaupt Phantasiegang einer Seele ist, die sich ganz dem Eindrucke eines Gegenstandes hingiebt, so müßte das Wesen der untergeordneten Dichtungsarten in nähern Modifikationen eben dieses Phantasieganges liegen: und wie würden wir nun diese Modifikationen bestimmen? – Die Freyheit in der Mischung der Zeilenmaße, die mannichfaltiger vertheilten Abschnitte, die in einander hinübergeschlungenen Strophen, die größere Fülle und Pracht zeigen deutlich: daß bald der Odendichter, um mich so auszudrucken, in seinem Gange kräftiger, gewichtiger auftritt, bald mit mehr Hitze und Ungestüm forteilt, bald ungleichförmiger, [313] regelloser die Geschwindigkeit seines Laufes abändert, als Lieder- und Elegieendichter. Das Gleichförmigere in Füßen und Strophenbau, das Leichtere, Kürzere, das mehr Fortfliessende in dem Sylbenmaße des Liederdichters zeigt an: daß bey ihm die Phantasie von jedem einzelnen Gedanken weniger erfüllt ist; nicht weite, kühne, aber auch nicht enge, träge Schritte thut, nicht ungestüm und reissend, nur munter, frisch, lebhaft durch die Ideenreyhe hineilt. Das sehr Einförmige, Schleppende, Weichliche im Sylbenmaße des Elegieendichters beweist: daß bey ihm die Phantasie länger auf jedem Gedanken ruht, ihn gleichsam ungerne verläßt, mit weit mäßigern, engern Schritten durch die nächsten Ideenverbindungen sanft und eben fortgleitet. – Alle stärkern, alle stürmischen, oder erhabenen Empfindungen also, die die Seele schwellen und fortreissen, würden wir dem Odendichter; alle mittlern, mäßigen, die sie lebhaft, aber gemächlich bewegen, dem Liederdichter; alle zärtlichern, weichern, die sie abspannen und ihre Bewegung hemmen, dem Elegieendichter geben.

Der hier festgesetzten Grenzscheidung der Begriffe ist wenigstens die eine Beobachtung günstig: daß der Odendichter von jeher gerne Götter, Helden, Schlachten, Triumphe, also große, erhabene, schreckliche Gegenstände wählte; der Liederdichter gern Liebe, Wein, Schönheit, Frühling sang, also sich in fröhlichen, in ergötzenden Gegenständen gefiel; der Elegieendichter gerne [314] klagte, weinte, oder auch wohl mit sanfter Rührung seine stille Ruhe und Zufriedenheit prieß, also das Traurige, das bloß Angenehme zu seinem Stoffe machte. Hingegen ist dieser Grenzscheidung zuwider: daß man so oft Lieder nennt, was in der That, wie die Amazonenlieder unsers Weiße, beym bloßen Sylbenmaße des Liedes, Odengeist, Odenton hat; daß man von anakreontischen Oden spricht, wo sich Stoff, Diktion, Mechanismus, Alles vereinigt, um die Benennung des Liedes zu fodern; endlich, daß man Stücke, die, Gegenstand und Empfindung nach, nur in Strophen gebrachte Elegieen wären, mit dem Namen von Traueroden belegt. Indessen ist der Schade, den das Schwankende dieser Benennungen thun kann, zu unwichtig, als daß man dagegen eyfern sollte; auch würde ohnehin der Grund des Unterschiedes, da er ein bloßer Grad, ein bloßes Mehr oder Weniger ist, keine so ganz feste Grenzscheidung erlauben.

Man spricht, noch in einer andern Hinsicht, von lyrischen Gattungen: man nennt Hymnen oder geistliche Oden Stücke, die der Verherrlichung des höchstens Wesens geweyht sind; geistliche Lieder und Gesänge überhaupt alle Stücke, worinn sich religiöse Empfindungen ergießen; heroische Oden, Loboden solche, in denen Thaten der Helden, in denen überhaupt große, bewundernswürdige Thaten und Tugenden gepriesen werden. Denn nicht nur Krieger sind der Lobgesänge des Dichters würdig:

    [315] Auch ihr, der Staaten friedliche Wächter, habt
Ein hohes Recht an seinen geflügelten
Gesängen; auch der tapfre Richter
Mächtiger Frevel und armer Unschuld;

    Auch deren Geist dem immer erneuerten
Geschlecht der Menschen Güter und Künste fand;
Auch wer allwachsam seinen Bürgern
Ueberfluß, Sitte, Gesundheit mittheilt.

                                              Ramler.

So spricht man auch von moralischen, philosophischen Oden u.s.w. Die ganze Eintheilung aber hat in die Theorie des lyrischen Gedichts eben so wenig Einfluß, als die Eintheilung in Kunst-, moralische, philosophische Lehrgedichte in die des didaktischen hatte, und so schweigen wir denn auch von jener, wie wir von dieser schwiegen.

Die lyrische Dichtungsart ist die glänzende Seite unsrer poëtischen Litteratur, wo die Wahl unter so vielen und so schätzbaren Stücken am meisten schwer fällt. Nur aus wenigen der berühmtesten frühern Dichter heben wir einige Stücke aus, die doch zum Theil, wenigstens hie und da, der Kritik noch einige Blößen geben mögten. Beyspiele von Oden mögen folgende seyn:

                   Die wahre Größe.

    In meinen Adern tobt ein juvenalisch Feuer;
Der Unmuth reichet mir die scharfgestimmte Leyer:
Maßt sich des Pöbels Wahn
Das Urtheil nicht von großen Seelen an?

    [316] Sey Richter, liebster Gleim! der Pöbel soll nicht richten;
O du, der jedes Herz mit reizenden Gedichten
Nach Amors Willen lenkt,
Der schalkhaft scherzt und frey und edel denkt!

    Ein Mann, der glücklich kühn zur höchsten Würde flieget,
Und, weil er, Sklaven gleich, vor Großen sich geschmieget,
Nun, als ein großer Mann,
Auch endlich selbst in Marmor wohnen kann;

    Der heißt beym Pöbel groß, da ihn sein Herz verdammet;
Und wenn der Bürger Gold auf seinem Kleide flammet,
So sieht die Schmeicheley
Vor Schimmer nicht, wie klein die Seele sey.

    Soll seines Namens Ruhm auf späte Nachwelt grünen?
Dem Staate dient er nur, sich Schätze zu verdienen.
Bereichert ein Verrath:
So, zweifle nicht, verräth er auch den Staat.

    Der Absicht Niedrigkeit erniedrigt große Thaten:
Wem Geiz und Ruhmbegier auch Herkuls Werke rathen,
Der heißt vergebens groß;
Er reißt sich nie vom Staub des Pöbels los.

    Zeuch, Alexander, hin bis zu den braunen Scythen,
Irr' um den trägen Phrat, wo heißre Sonnen wüten,
Und reiß dein murrend Heer
Zum Ganges hin bis ans entfernte Meer!

    [317] Du kämpfest überall und siegest, wo du kämpfest,
Bis du der Barbarn Stolz, voll größern Stolzes, dämpfest,
Und die verheerte Welt
Vor ihrem Feind gefesselt niederfällt.

    Verkenne Menschlichkeit und menschliches Erbarmen!
Von deinem Haupte reißt, auch in des Sieges Armen,
Der Tugend rauhe Hand
Die Lorbeern ab, die Ehrsucht ihr entwandt.

    Mit Lorbeern wird von ihr der bessre Held bekränzet,
Der für das Vaterland in furchtbarn Waffen glänzet,
Und über Feinde siegt,
Nicht Feinde sucht, nicht unbeleidigt kriegt;

    Der Weise, der voll Muths, wann Aberglaube schrecket,
Und Wahn die halbe Welt mit schwarzen Flügeln decket,
Allein die Wahrheit ehrt,
Und ihren Dienst aus reinem Eifer lehrt;

    Der echte Menschenfreund, der bloß aus Menschenliebe
Die Völker glücklich macht, und gern verborgen bliebe;
Der nicht um schnöden Lohn,
Nein! göttlich liebt, wie du, Timoleon!

    Zu dir schrie Syrakus, als unter Schutt und Flammen,
Und Leichen, die zerstückt, in eignem Blute schwammen,
Der wilde Dionys
Sein eisern Joch unleidlich fühlen ließ.

    [318] Du kamst und stürztest ihn, zum Schrecken der Tyrannen,
Wie, wenn ein Wintersturm die Königinn der Tannen
Aus starken Wurzeln hebt,
Von ihrem Fall ein weit Gebirge bebt.

    Durch dich ward Syrakus der Dienstbarkeit entzogen,
Und sichrer Ueberfluß und heitre Freude flogen
Den freyen Mauren zu:
Held aus Corinth! Was aber hattest du?

    Allein die edle Lust, ein Volk beglückt zu haben!
Belohnung bessrer Art, als reicher Bürger Gaben!
Du Stifter güldner Zeit,
Der Hoheit werth, erwähltest Niedrigkeit.

    Doch dein gerechtes Lob verewigt sich durch Lieder,
Nachdem die Ehre dich auf glänzendem Gefieder
Den Musen übergab:
Noch schallt ihr Lieb in Lorbeern um dein Grab.

                                        Uz.

 

                   Der Zürchersee.

    Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht,
Auf die Fluren verstreut; schöner ein froh Gesicht,
Das den großen Gedanken
Deiner Schöpfung noch einmal denkt.

    Von des schimmernden Sees Traubengestaden her,
Oder, flohest du schon wieder zum Himmel auf,
Komm, in röthendem Strahle
Auf dem Flügel der Abendluft;

    [319] Komm und lehre mein Lied jugendlich heiter seyn,
Süße Freude, wie du! gleich dem beseelteren
Schnellen Jauchzen des Jünglings,
Sanft, der fühlenden Fanny gleich.

    Schon lag hinter uns weit Uto, an dessen Fuß
Zürch in ruhigem Thal freye Bewohner nährt;
Schon war manches Gebirge
Voll von Reben vorbeygeflohn.

    Jetzt entwölkte sich fern silberner Alpen Höh,
Und der Jünglinge Herz schlug schon empfindender,
Schon verrieth es beredter
Sich der schönen Begleiterin.

    Hallers Doris, sie sang, selber des Liedes werth,
Hirzels Daphne, den Kleist zärtlich wie Gleimen liebt,
Und wir Jünglinge sangen
Und empfanden, wie Hagedorn.

    Jetzt empfing uns die Au in die beschattenden
Kühlen Arme des Waldes, welcher die Insel krönt;
Da, da kamest du, Freude!
Volles Maaßes auf uns herab!

    Göttinn Freude, du selbst! dich, wir empfanden dich!
Ja, du warest es selbst, Schwester der Menschlichkeit,
Deiner Unschuld Gespielinn,
Die sich über uns ganz ergoß!

    Süß ist, fröhlicher Lenz, deiner Begeisterung Hauch,
Wenn die Flur dich gebiert, wenn sich dein Odem sanft
In der Jünglinge Herzen
Und die Herzen der Mädchen gießt.

    [320] Ach! du machst das Gefühl siegend; es steigt durch dich
Jede blühende Brust schöner und bebender,
Lauter redet der Liebe
Nun entzauberter Mund durch dich!

    Lieblich winket der Wein, wenn er Empfindungen,
Bessre sanftere Luft, wenn er Gedanken winkt,
Im sokratischen Becher
Von der thauenden Ros' umkränzt;

    Wenn er dringt bis ins Herz und zu Entschliessungen,
Die der Säufer verkennt, jeden Gedanken weckt,
Wenn er lehret verachten,
Was nicht würdig des Weisen ist.

    Reizvoll klinget des Ruhms lockender Silberton
In das schlagende Herz, und die Unsterblichkeit
Ist ein großer Gedanke,
Ist des Schweißes der Edlen werth!

    Durch der Lieder Gewalt bey der Urenkelinn
Sohn und Tochter noch seyn; mit der Entzückung Ton
Oft beym Namen genennet,
Oft gerufen vom Grabe her,

    Dann ihr sanfteres Herz bilden, und, Liebe, dich,
Fromme Tugend, dich auch gießen ins sanfte Herz,
Ist, Goldhäufer! nicht wenig;
Ist des Schweisses der Edlen werth!

    Aber süsser ists noch, schöner und reizender,
In dem Arme des Freundes wissen ein Freund zu seyn;
So das Leben geniessen,
Nicht unwürdig der Ewigkeit!

    [321] Treuer Zärtlichkeit voll, in den Umschattungen,
In den Lüften des Walds, und mit gesenktem Blick
Auf die silberne Welle,
That mein Herze den frommen Wunsch:

    Wäret ihr auch bey uns, die ihr mich ferne liebt,
In des Vaterlands Schooß einsam von mir verstreut,
Die in seligen Stunden
Meine suchende Seele fand;

    O so bauten wir hier Hütten der Freundschaft uns!
Ewig wohnten wir hier, ewig! der Schattenwald
Wandelt' uns sich in Tempe,
Jenes Thal in Elysium.

                                        Klopstock.

 

                   Josephs erste Reise.

    Herauf, o Sonne! Lange schon harret dir
Der Bard' entgegen, welchen der Hahnenruf
Aus Seelenhebenden Gesichtern
Mitten in seinem Gewölbe weckte.

    Herauf, o Sonne! Röthe mein Saitenspiel
Mit einem deiner Erstlinge! denn mein Herz
Ist voll von Joseph. Nur dein Anglanz
Mangelt. Erschein! und Gesänge reifen.

    Sie kommt. Die Blume schleußt ihr den Busen auf.
Der Thau der Wipfel blitzet ihr Gold zurück,
Und tausend rege Lüftesänger
Lösen in Freudengetön die Kehle.

    [322] So kommt zu Völkern, welche das Meer von uns,
Von uns die Kette steiler Gebürge trennt,
So kommt zu Völkern Joseph. Herzen
Schliessen sich auf, und gethürmte Städte,

    Tief aufgereget, schmücken ihr luftig Haupt
Und kleiden sich in Feyer, und himmelan
Erschallt von hunderttausend Lippen:
Heil dem Gebieter der deutschen Erde!

    Heil sey dem ersten Sohne Theresiens!
Dem Heldenenkel, Herzeneroberer!
Dem wunderbaren jungen Manne!
Weiser, Genügsamer, Holder, Heil dir!

    Wem jauchzt ihr, Völker? Städte, wen feyert ihr?
Wem schliessen aller Herzen so weit sich auf?
Tönt, Saiten, tönt den Stolz des Barden!
Tönt ihn gewaltiger! Er ist unser!

    Ihr seht ihn, Völker! Deckt ihn ergrabner Werth
Von einer halben Erde? Beschweret er
Von Silber helle Räder? Folgen
Seinem Gespanne die bunten Horden

    Geschmückter Diener? Blitzet ein fürchterlich
Gemisch entblößter Wehren um Joseph her?
Und dennoch jauchzt ihr? – Echter Größe
Jauchzet ihr, Völker! Und er ist unser!

    Ihr seht sein menschenfreundliches Angesicht,
Sein Aug voll Herz auf Grüßende zugewandt.
Ihr hört ihn Weisheit, Güte sprechen,
Staunet und liebet. Und Er ist unser!

    [323] Ihr seht ihn, Völker, wenn er dem Ewigen
In seinen Hallen gläubige Kniee beugt.
Ihr seht und wünschet allen Erden
Herrscher, wie Joseph. Und Er ist unser!

    Das ist Er! Harfe, töne des Barden Stolz,
Den Stolz der Kinder Teuts, den entzückenden,
Den wonnetrunkenen Gedanken:
Joseph der Zweyte so groß und unser!

    Und sängen alle Barden der Kinder Teuts
In ihre besten Harfen, er bliebe doch
Unausgesungen der Gedanke;
Seelen empfinden allein die Süße,

    Dem Göttlichen zu dienen, sein Eigenthum
Und seiner Sorgen einziger Zweck zu seyn,
Der voll des Vaters und der Mutter,
Eh noch die Wange sich männlich bräunte,

    Noch eh der Herrscher Gold ihm vom Haupte schien,
Schon Herrscher seiner selbsten, entadelnden
Oft thronerschütternden Begierden
Niemals den himmlischen Busen aufschloß.

    Den, nur von Recht und Einsicht und Mäßigkeit,
Der Erdegötter schönsten Gefährtinnen,
Begleitet, an die Grenzen seines
Mächtigen Erbes die Liebe seiner

    Getreuen hinzog, jegliches Ungemach
Verachtend und zur kriegrischen Arbeit sich
Mit Lust erhärtend, der im Frieden,
Aehnlich dem Adler am Felsengipfel

[324] Mit wachem Auge ruhet, und Adlerschnell
Auf Störer seiner Ruhe sich niedersenkt.
Sie bluten, liegen, und der Sieger
Schwebet zurück zum Felsengipfel.

    Dann wirbelt heller Siegessang ihm nach,
Gestürmt in deutsche Saiten, und Joseph horcht;
Nicht Sänger fremder Zungen, deutscher
Heldenton reizte den deutschen Herrscher!

    Und kann der Ausbruch meiner Empfindungen
Und meine Saitengriffe den Göttlichen
Nur einen Augenblick der hohen
Erdebesorgenden Bürd entlasten,

    Dann soll dich, meine Scheitel, ein Eichenkranz,
Der Hauptschmuck deutscher Barden, verewigen,
Und junges Eichenlaub in jedem
Monde der Blüthen dich, Harfe, zieren.

    Manch vaterländisch Bardenlied höret dann
Die lang verwöhnte Donau zur Abendluft
Aus nahen Espenhainen schallen,
Ihrem erhabenen Herrscher heilig.

                                        Denis.

Auch von Liedern nur ein Paar Beyspiele aus den ersten Dichtern, die sich unter uns in dieser Gattung berühmt gemacht:

                   An die Freude.

    Freude, Göttin edler Herzen!
Höre mich!
[325] Laß die Lieder, die hier schallen,
Dich vergrößern, dir gefallen:
Was hier tönet, tönt durch dich.

    Muntre Schwester süßer Liebe!
Himmelskind!
Kraft der Seelen! halbes Leben!
Ach! was kann das Glück uns geben,
Wenn man dich nicht auch gewinnt?

    Stumme Hüter todter Schätze
Sind nur reich.
Dem, der keinen Schatz bewachet,
Sinnreich scherzt und singt und lachet,
Ist kein karger König gleich.

    Gieb den Kennern, die dich ehren,
Neuen Muth;
Neuen Scherz den regen Zungen,
Neue Fertigkeit den Jungen,
Und den Alten neues Blut!

    Du erheiterst, holde Freude!
Die Vernunft.
Flieh auf ewig die Gesichter
Aller finstern Splitterrichter
Und die ganze Heuchlerzunft!

                                        v. Hagedorn.

 

         An einen Wassertrinker.

    Trink, betrübter, todtenblasser
Wassertrinker, Rebenhasser,
Trink doch Wein!
[326] Deine Wangen wirst du färben,
Weiser werden, später sterben,
Glücklich seyn.

    Habt, ihr großen Götter, habet
Für den Trank, den ihr uns gabet,
Habet Dank!
O wie dampft er in die Nase!
O wie sprudelt er im Glase!
Welch ein Trank!

    Alle Sorgen, alle Schmerzen
Tödtet er, und alle Herzen
Macht er froh.
Durstig sang zu seinem Preise
Dieses schon der große Weise
Salomo.

    O es müssen alle Weisen
O es muß ihn jeder preisen,
Der ihn trinkt.
Finster, grämlich, menschenfeindlich
Läßt er keinen. Seht, wie freundlich
Er mir winkt!

    Siehe, spricht der Rebenhasser,
Wie so freundlich da mein Wasser
Mir auch winkt!
Ernster Weisheit bleibt ergeben,
Wer, ein Feind vom Saft der Reben,
Wasser trinkt.

    Wasser, immer magst du winken;
Wer zu klug ist, Wein zu trinken,
Trinke dich!
[327] Wasser, weg von meinem Tische!
Du gehörest für die Fische,
Nicht für mich.

                                        Gleim.

 

Die Annäherung des Frühlings.

    Schon ist er bald entflohen,
Der Winter, meine Lust.
Die sanften Weste drohen
Mir schrecklichen Verlust.
Umsonst blüht mir Betrübten
Die neugebohrne Welt:
Der Krieg ruft den Geliebten
Von mir ins rauhe Feld.

    Da, wo ich Blüthen finde,
Blüht mir ein neuer Schmerz;
Der Hauch der Zephyrwinde
Haucht Wehmuth mir ins Herz:
Wo Blumen sich entschließen
Auf der begrünten Au,
Da sehn sie Thränen fließen,
Gleich ihrem Morgenthau.

    Es singe das Gefieder
Des Frühlings Wiederkehr;
Ich höre Trauerlieder,
Und keine Jubel mehr.
Des Leidens Melodieen
Rauscht der enteis'te Bach,
Und alle Scherze fliehen
Der Flucht des Winters nach.

    [328] O steig noch nicht hernieder,
Du Gott der Freude du!
Die Welt belebst du wieder,
Mich aber tödtest du.
O Lenz! die Seligkeiten
Der Liebe bringst du ihr,
Und alle Seligkeiten
Der Liebe raubst du mir.

                                        Weiße.

Endlich sehe man noch eine kurze Elegie, die von wahrer Empfindung eingegeben worden:

        Am Sarge seiner früh vollendeten Tochter.

    Sanft entschliefst Du, frey von Kampf und Schmerzen,
Sanft, von Engeln Gottes eingewiegt,
Selbst nun Engel! Theil von meinem Herzen!
Kind, das hier im Arm dem Tode liegt;
Nicht dem bleichen, schreckenden Gerippe,
Das die mordgewohnte Sichel hebt,
Nein, dem Genius, auf dessen Lippe
Lächeln, wie auf Deiner Lippe, schwebt.
Schlummre friedsam! Deines Vaters Thränen,
Deiner Mutter Winseln um Dich her,
Deines Bruders halbverstandnes Sehnen,
Wecken dich zum Mitgefühl nicht mehr.
Ewig glücklich, daß dich Gottes Gnade
Früh entkörpert, früh vollendet hat;
Ewig glücklich, daß die Dornenpfade
Dieses Lebens kaum dein Fuß betrat;
Daß dich allem Straucheln, allem Gleiten
Der Erbarmende so ganz entnahm;
[329] Daß von tausend, tausend Eitelkeiten
Keine noch in deine Seele kam;
Daß dein Blick der irrdschen Zauberscenen
Aussenseite, nicht ihr Innres, sah! – – –
Ueberall hier, wo wir Wonne wähnen,
Ist uns Kummer, bittrer Kummer, nah.
Wonne wähnten wirs, uns dein zu freuen,
Zarte Pflanze! dich voll Aemsigkeit
Zu verpflegen; hofften dein Gedeihen;
Gott! und wir verpflegten unser Leid!
All die Bilder, die von Dir wir sammeln,
Deines Aufblicks, deines Lächelns Lust,
Und dein erster Schritt, dein erstes Stammeln,
Alles wird izt Dolchstich unsrer Brust.
Traumgewebe war es! Noch empfunden
Schien es Wahrheit dem getäuschten Blick;
Aber izt, hinweggerückt, verschwunden,
Läßt es Reu und Sehnsucht uns zurück.
    Aber nein! Auch was uns bleibt, der Schatten
Jenes süßen Traums ist doch uns werth.
Der Gedanke, daß wir einst dich hatten,
Wenn er nicht mehr wild die Brust durchfährt,
Wenn der Schauder nun in Schwermuth schwindet,
Und der Gram nicht mehr so wütend nagt,
Unser Herz die Stille wieder findet,
Die der Wunde Pein ihm noch versagt;
O! dann giebt belebtern, sanftern Bildern
Diese stille, süße Schwermuth Raum;
Sie wird uns das Leben schöner schildern,
Nicht als eitlen, wesenlosen Traum;
Nein, als den umwölkten, trüben Morgen,
Bald vom heitern Sonnenglanz ereilt,
Dessen Strahl die Nebel unsrer Sorgen,
Deiner Leiden Dämmrung früh zertheilt.
    [330] Weinende Gefährtinn meines Lebens,
Wohl uns! Bald wird sie uns neu gewährt,
Die wir izt beweinen. Nicht vergebens
Hast du sie gebohren, sie genährt;
Warst mit frommer, seltner Muttertreue
Unablässig sorgsam für ihr Wohl
Nicht vergebens! Stark durch Hofnung freue
Dich des Glücks, das einst uns werden soll,
Haben wir durch Kampf und Muth und Leiden
Jenen Lohn der bessern Welt ersiegt,
Wenn uns dann, am Eingang ihrer Freuden,
Dieser Engel in die Arme fliegt.

                                        Eschenburg.

Die beyden merkwürdigsten Arten, wie sich diese Dichtungsart mit andern mischt, sind schon in diesem Hauptstücke, bey Gelegenheit der Lessingischen Scene aus Minna von Barnhelm und bey Entwickelung des Begriffs vom Plan der Ode, vorgekommen. Man erkennt, wenn man beyde Stellen vergleicht, daß die lyrische Reyhe, so gut wie jede andre, bald die herrschende, bald die untergeordnete seyn kann. Auch das ist schon bemerkt worden, daß viele Stücke, die in der That beschreibend oder erzählend sind, um ihres beseeltern empfindungsvollern Tons, um der hie und da eingemischten kleinen Ausschweifungen der Phantasie, und um des regelmäßigen Strophenbaues willen, zu der lyrischen Gattung pflegen gezogen zu werden. Die Hymne ist, nach den besten Mustern, nichts als feurige Beschreibung alles des Großen, Guten und Schö [331]nen, das durch eine Gottheit gewirkt wird. In einer Elegie auf einen Gottesacker von Hölty, die wir nicht anführen, weil sich dieser junge, zu früh verstorbene Dichter nachher weit vortheilhafter gezeigt hat, entstehen die verschiedenen einzelnen Empfindungen, so wie sich dem Dichter ein Grabhügel nach dem andern zeigt und ihm Stoff zu neuen Betrachtungen darbeut. Die nur mäßig bewegte Phantasie endiget hier bald ihre kleinen Absprünge, und erlaubt dann den Sinnen, die Betrachtung des Gegenstandes selbst weiter fortzusetzen.

 

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[Die Anmerkungen stehen als Fußnoten auf den in eckigen Klammern bezeichneten Seiten]

[283]   *) Materie ist also wohl von Gegenstand, oder Klasse von Gegenständen, Welt, wie wir es S. 57 nannten, zu unterscheiden. Ein Eintheilungsgrund, den wir erst künftig untersuchen werden.   zurück

[283]   **) Siehe die Entwicklung des Begriffs der Formen im folgenden Hauptstück.   zurück

[287]   *) Die Mimen der Alten, wenn wir nach den Syrakuserinnen des Theokrit davon urtheilen dürfen, enthielten lauter Scenen, in welchen wechselsweise bald die Phantasie, bald der stärkere Eindruck auf die Sinne den Ideengang leiteten. Eigentliche Handlung giebt es wenigstens in den Syrakuserinnen gar nicht; und wenn das Stück Interesse hat, so kann es dieses bloß als Charakterschilderung haben; es ist eine lebendige Darstellung zweyer Weiberseelen. – Die dramatischen Sprüchwörter unsrer Nachbaren scheinen mit den Mimen der Alten im Wesentlichen viel Aehnliches zu haben.   zurück

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

[Johann Jacob Engel]: Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten aus deutschen Mustern entwickelt.
Erster Theil [mehr nicht ersch.]. Berlin und Stettin: Nicolai 1783.

Unsere Auswahl
S. 15-24: Von den verschiedenen Dichtungsarten.
S. 277-331: Von dem lyrischen Gedicht.

URL: http://ub-goobi-pr.ub.uni-greifswald.de/goobi/ppnresolver/?PPN62042169X
URL: https://books.google.fr/books?id=ozCIuLd3Mp0C

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


2. Auflage
Engel, Johann Jakob: Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten aus deutschen Mustern entwickelt.
2. Aufl. Berlin und Stettin: Nicolai 1804.
PURL: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11009583-1
URL: https://books.google.de/books?id=7ElCAQAAMAAJ
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/100202440


 

Kommentierte Ausgabe

 

 

 

Literatur

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[anonym]: [Rezension zu] Theorie der schönen Wissenschaften, zum Gebrauche seiner Vorlesungen, herausgegeben von Johann August Eberhard. Halle im Verlag der Waisenhausbuchhandlung, 1783.   –   Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten, aus deutschen Mustern entwickelt. Erster Theil, (von J. J. Engel) Berlin und Stettin bey Friedrich Nicolai 1783.   –   Entwurf einer Theorie und Litteratur der schönen Wissenschaften, zur Grundlage bey Vorlesungen, von Johann Joachim Eschenburg. Berlin und Stettin bey Friedrich Nicolai, 1783.
In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Bd. 29, 1784, Stück 1, S. 267-290.
URL: http://gdz.sub.uni-goettingen.de/dms/load/toc/?PID=PPN556514408
URL: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/213491-3
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/008697295

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Lyriktheorie » R. Brandmeyer